Trotz Sehbehinderung ein gutes Leben führen – wie geht das? Die Dürmüllers aus St. Gallen berichten offen über ihr alltägliches Zusammenleben mit dem Vater, der eine schwere degenerative Augenerkrankung hat. Im ersten Teil dieser Mini-Serie wird geschildert, wie sich die Familie an die Sehbehinderung gewöhnen musste.
Jean Seiler, jean.seiler@retina.ch
Der Blick von aussen bezüglich Behinderungen im Allgemeinen ist unklar:
«Wie machst du das nur?!», «Toll, wie Du dein Leben meisterst!», «Ich könnte das nicht!» und andererseits: «Behinderung soll an sich etwas Furchtbares sein!»
Eine Person mit Sehbehinderung äusserte sich einmal folgendermassen: «Das Kennzeichen für Unabhängigkeit ist für mich nicht, ob ich alleine über die Strasse gehen kann, sondern ob ich mit der Last meiner Beeinträchtigungen leben kann.»
Diese Frage stellt sich nicht nur einer Person mit einer Sehbehinderung, sie wird auch von Familienangehörigen, von Partnern und Kindern genauso gestellt. Leider wird darüber nicht viel berichtet. Ein inkludiertes Zusammenleben in der Familie stellt an alle hohe Anforderungen. Die Herausforderung ist eine andere Familiendynamik, das Ziehen am gleichen Strick, Verständnis für die Behinderungssituationen zu haben, damit umgehen zu können und darin Sinnhaftigkeit zu finden.
Es freut mich, dass die Familie Dürmüller aus St. Gallen offen über ihr Leben mit einer Sehbehinderung berichtet. Vorweg sei gesagt, es herrscht nicht immer nur heller Sonnenschein, jedoch die Art und Weise, wie die Familie damit umgeht, kann anderen Mut geben. Diese Geschichte wird hier im Retina Journal mit verschiedenen Aspekten der familiären Bewältigung einer generativen Augenerkrankung als Serie wiedergegeben.
Diagnose: Retinitis pigmentosa
Der Familienvater Hampi (Hanspeter) beginnt damit zu erzählen, dass er, heute 43-Jährig, die Diagnose Retinitis Pigmentosa (RP) bereits mit 18 Jahren erhielt. Bei seinem Vater wurde zwei Jahre vorher PR diagnostiziert. Für den Vater war der Befund so gravierend, dass er sofort seinen Fahrausweis abgeben musste. Deshalb wurden die Kinder auch untersucht.
Hampi hatte damals keine Beschwerden. Es wurde bei ihm ein GF von ca. 150° festgestellt, also leicht reduziert. Somit konnte er die Lehre als Maurer beenden. Die Versicherung Suva mahnte jedoch, dass gewisse Tätigkeiten wie beispielsweise auf dem Baugerüst und Nachtarbeit nicht toleriert würden. Hampi konnte mit diesen Einschränkungen noch mindestens 1 Jahr auf dem Beruf arbeiten. Dies war ihm für den Erfahrungswert sehr wichtig.
Hampi ist auf dem Land aufgewachsen und hatte zu Fuss 1 ½ km bis ins Dorf hinunter. Er erinnert sich, dass sie sich früher immer bei den Bauern in die Heumaden gelegt und nachts die Sterne betrachtet haben. Seine Kindheitserinnerungen sind der Himmel voll mit Sternen. Und nun bemerkte Hampi auf einmal, dass die Sterne weg waren. Erstmals wird ihm bewusst, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmt. Mit 29 wurde das Autofahren immer schwieriger, vor allem nachts, weshalb er sein Führerschein abgeben musste.
Aufgabe des Autofahrens wirkt auf die Familiendynamik
«Es bremste mein Leben ab. Ich konnte nicht mehr noch schnell da und dorthin. Ich musste auf einmal viel mehr Zeit einrechnen. Auch die Individualität litt stark darunter. Das heutige, ‘ich gehe und mache noch schnell…’, ging nicht mehr.» Zum Glück lebt Hampi heute in der Stadt, denn er stellt fest, auf dem Land wäre diese Situation für ihn viel schwieriger.
Seine Frau wendet ein: «Als Du nicht mehr Auto fahren konntest, haben wir das schon zu spüren bekommen.» Die Organisation in der Familie musste umgestellt werden. Manches fiel auf die Grosseltern, wie beispielsweise ein Kind irgendwo hinbringen. Nadia fährt schon auch Auto, aber wie es so geht mit drei Kindern, manchmal sollte alles gleichzeitig sein. Zum Glück gibt es noch den Opa! Die Grosseltern wohnen im selben Haus. Hampi kann diesbezüglich unterstützend nur noch wenig bieten und dies ist für ihn oft frustrierend. «Mir sind die Hände gebunden. Auch das Fahrrad konnte ich eine Zeitlang nur noch in Begleitung benutzen. Es tut weh, dass Badminton spielen, Fussball nicht mehr gehen, und das mit 3 Buben!»
Auswirkungen auf die Freizeit in der Familie
Der älteste Sohn Samuel geht in die 2. Sekundarschule und erzählt, dass es schon Alternativen gebe wie zum Beispiel das Wandern. Die Kinder haben sich auf natürliche Weise gut dreingeschickt. Sie kennen es nicht anders, sie sind damit aufgewachsen. Jonas, der Jüngste, vermisst, dass der Papi nicht mehr viel mit ihm spielt. Wenn er von der Arbeit heimkomme, sei er müde. Auch liest er keine Geschichten vor.
Ausflüge gehen halt nicht so wie bei anderen Leuten. Beispiel Sommerferien: Die Familie macht meistens Campingferien. Abends sind die Einschränkungen gravierend. Dann ist Hampi froh, wenn die Familie in einem Restaurant sitzen kann, oder vor dem Zelt. Ausgang liegt da für ihn nicht drin. So kommt es, dass die Kinder in die Kinderdisco gehen und Nadia unternimmt ebenfalls allein etwas. Sie schätzt es, wenn sie ohne «Hindernisse», sie sagt es nicht gerne, unterwegs sein kann.
Manchmal wird Hampi zurückgelassen
So wird Hampi immer mal wieder zurückgelassen. Er sitzt dann vor dem Zelt, beschäftigt sich mit etwas oder stellt sich die Sterne vor. Es sei eine Herausforderung, den Kindern gerecht zu werden und den Mann nicht zu verletzen. Nadia muss immer mal wieder Rollen des Vaters übernehmen, damit etwas läuft und sich die Kinder nicht langweilen. Die Seheinschränkung des Vaters hat manchmal einschneidende Momente und gerade für Kinder ist es nicht immer einfach, wenn der Papi nicht kann.
Ein weiteres Beispiel ist das Einkaufen: Die Mutter mit drei Kindern und dann noch ein Mann, der fast nichts sieht. Das ist dann Chaos pur. Manchmal fragt Nadia feinfühlig: «Du, ist es o.K., wenn ich alleine gehe, damit es zügiger geht?» Das seien unter anderem auch schwierige Momente, sagt Hampi. In dieser Situation fühle er sich dann schon etwas aufs Abstellgeleise geschoben. «Soll ich jetzt einfach warten, was mache ich jetzt? Trotzdem holt mich dann die Vernunft wieder ein, weil irgendwo muss Nadia ihre Zeit auch einteilen können. Sie kann nicht einfach wegen mir zwei Stunden mehr aufwenden.»
Für Nadia sei Einkauf mit Hampi zuweilen stressig, immer auf der Hut zu sein, dass er in nichts hineinläuft oder mit dem Einkaufswagen Leute umfährt, wie auch schon. Jetzt nehme er allerdings den weissen Stock, das sei schon besser, aber in der Hektik der Leute sei auch das nicht immer optimal.
Die Familiengemeinschaft soll gelingen
Nebst den allgemeinen Herausforderungen, die eine Familie zu bewältigen hat, gilt es zufolge einer sich stetig verschlechternden Sehsituation eines Familiengliedes zusätzliche Hürden zu überwinden. Dazu ist von allen Beteiligten viel Verständnis erforderlich und die Bereitschaft, mit den vorhandenen Ressourcen, die Herausforderungen und Probleme anzunehmen und bewältigen zu können. Wenn dies gelingt, wird Sinnhaftigkeit dazu führen, dass die Familiengemeinschaft wertvoll gelingt.
Auf den ersten Blick gelingt dies der Familie Dürmüller sehr gut. Aber selbstverständlich ist es nicht, wie im zweiten Teil der Mini-Serie über die Dürrmüllers zu erfahren sein wird. Das Thema wird lauten: «berufliche Situation mit Auswirkungen auf zu Hause».