Laura hat mit der Schule begonnen, und sie ist begeistert von dieser neuen Welt. Doch sie hat ein Problem: Sie sieht schlecht auf die Wandtafel bzw. auf den grossen Monitor im Schulzimmer. Mit diesem Problem ist Laura alles andere als allein, denn weltweit hat die Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen massiv zugenommen.
Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch
Lauras Augen nehmen die Buchstaben und Darstellungen vorne auf der Wandtafel unscharf wahr. Sie ist also kurzsichtig und leidet an «Myopie», wie der Fachausdruck lautet. Die Sechsjährige braucht eine Brille – schon in diesem jungen Alter.
Aber Laura ist deswegen nicht traurig. Denn ihre Freundin Emma sieht auch schlecht auf den Screen im Schulzimmer. Geteiltes Leid ist halbes Leid, und mit ihrer Myopie sind Laura und Emma alles andere als allein: Kurzsichtigkeit tritt weltweit immer häufiger auf, wie medizinische Statistiken besagen. In einer Reihe von asiatischen Ländern sind Brillen tragende Kinder und Teenager unterdessen in der Mehrheit, je nach Region können bis zu 80 oder 90 Prozent betroffen sein. In Europa sehen bis zu einem Drittel der Heranwachsenden schlecht in die Weite.
Experten führen dies auf eine zunehmende Urbanisierung bzw. Verstädterung und den hohen Lerndruck zurück. Die Kinder und Jugendlichen verbringen schon im Grundschulalter mehr Zeit mit Lehrbüchern oder digitalen Geräten in Innenräumen als draussen im Sonnenlicht mit Spielen oder sonstigen Freizeitaktivitäten. Eine weitere wichtige Ursache für Myopie bei jungen Menschen kann eine genetische Veranlagung sein.
Wenn der Augapfel zu lang wird
Kurzsichtigkeit entsteht durch einen zu langen Augapfel. Und je weniger Zeit draussen mit Fernsicht im Sonnenlicht verbracht wird, desto eher wächst der Augapfel zu stark in die Länge, wie aus Studien hervorgeht.
Dadurch verschiebt sich der Brennpunkt, an dem die Lichtstrahlen gebündelt sind und ein scharfes Bild ergeben sollten, im Auge weiter nach innen. Dabei sollte dieser Brennpunkt direkt hinten auf der Netzhaut liegen. Auch die zunehmende Nutzung von Bildschirmgeräten und zuletzt der Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie könnten zur massiven Zunahme der Myopie in Asien beigetragen haben.
In Europa ist die Lage gemäss den Ergebnissen einer systematischen Übersicht weniger schlimm. Inzwischen ist fast jede*r vierte Europäer*in kurzsichtig, unter den Heranwachsenden selbst finden sich bis zu einem Drittel Kurzsichtige.
Forschende von der portugiesischen Universidade Nova de Lisboa haben letztes Jahr die Daten von 22 Studien mit 128’012 Personen aus 14 europäischen Ländern ausgewertet. Sie kommen auf eine Myopie-Prävalenz von 23,5 Prozent. Das heisst, der Anteil der kurzsichtigen Personen in einer bestimmten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt betrug europaweit fast ein Viertel.
In der Schweiz zwischen 30 bis 40 Prozent Kurzsichtige
Allerdings schwankt laut dem Bericht der Forschenden die Myopie-Häufigkeit von Land zu Land. Am niedrigsten war die Prävalenz mit rund 12 Prozent in Finnland, am höchsten im Nachbarland Schweden, bei fast 50 Prozent. In Deutschland lag sie mit 36 Prozent im oberen Bereich – für die Schweiz gelten ähnliche Zahlen.
Viele Untersuchungen waren aber ohne Berücksichtigung der Zykloplegie durchgeführt worden. Bei Zykloplegie handelt es sich um eine Lähmung des Ziliarmuskels (hinter der Iris gelegen), die eine vorübergehende Unfähigkeit des Auges zur Akkommodation, also Scharfstellung, verursacht.
Bei Kindern wird die Zykloplegie bei Untersuchungen als diagnostisches Mittel eingesetzt. Das heisst, die Lähmung wird bewusst herbeigeführt, um eine akkurate Messung des Augapfels zu ermöglichen, da der Ziliarmuskel sich bei Kindern leicht verkrampfen kann und so den tatsächlichen Grad der Kurzsichtigkeit verfälscht. Myopie-Untersuchungen bei Minderjährigen ohne Zykloplegie führen demnach zu einer vermutlich überbewerteten Prävalenz.
Objektiver ist eine Messung nach einer Zykloplegie mit kurzzeitiger Lähmung der Ziliarmuskeln, die eine Akkommodation verhindert. In den Studien mit Zykloplegie betrug die Prävalenz der Myopie denn auch rund 19 Prozent gegenüber 31 Prozent in den Studien ohne Zykloplegie.
Es beginnt im Schulalter
Gemäss der portugiesischen Studie entwickelt sich die Myopie meist im Schulalter. Generell entsteht ein zu langer Augapfel im Alter von 3 bis 25 Jahren: In dieser Lebensphase wächst der Mensch, sein Gewebe ist noch geschmeidig und daher stark deformierbar.
Im Alter von 6 bis 11 Jahren beträgt die durchschnittliche Myopie-Prävalenz in Europa 5,5 Prozent – im Alter von 12 bis 17 Jahren hingegen sind schon 25 Prozent der Jugendlichen kurzsichtig (jeweils mit Zykloplegie gemessen). Interessant ist zudem, dass in Städten Myopie in der ganzen Bevölkerung mit 27 Prozent doppelt so häufig vorkommt als in ländlichen oder gemischten Regionen (dort sind es rund 15 Prozent). Frauen und Männer sind gleich häufig betroffen.
Auch in Zukunft wird man schlecht in die Ferne sehen: Das Vision Institute im australischen Sydney hatte in einer früheren Analyse für Europa einen Myopie-Anstieg bis 2050 auf über 50 Prozent vorausgesagt. Die zunehmende Nutzung von Bildschirmgeräten könnte hierbei ein massiver Risikofaktor sein. Eine «Myopie-Epidemie» wie in Ostasien ist nach den Ergebnissen der portugiesischen Forschenden für Europa aber derzeit nicht erkennbar.
Starke Myopie kann gefährliche Folgeschäden nach sich ziehen
Kommen wir zurück zur Erstklässlerin Laura: Ihr Sehproblem lässt sich mit einer Brille oder gegebenenfalls mit Kontaktlinsen bestens ausgleichen. Allerdings hat die Sechsjährige noch ein Problem: Sie sieht nicht einfach ein bisschen unscharf in die Ferne, sondern ziemlich verschwommen. Sie hat nämlich 6,5 Minusdioptrien – bei ihr liegt also bereits eine starke Myopie vor, was ab 6 Minusdioptrien der Fall ist.
Trotz Korrektur durch eine Brille kann starke Myopie massive und sogar gefährliche Spätfolgen haben. Daher ist es für Retina Suisse wichtig, Eltern und ihre Kinder über die Kurzsichtigkeit aufzuklären, damit Spätfolgen vermieden werden. Retina Suisse informiert die Bevölkerung mit Hilfe ihrer speziellen Myopie-Broschüre und bietet auch kostenlose persönliche Beratung an.
Was ist also die gefährliche Langzeitfolge von starker Kurzsichtigkeit? Durch einen «überlangen» Augapfel können sich die Strukturen des Auges überdehnen, insbesondere die Netzhaut. Das führt möglicherweise zu Schädigungen am Sehnerv (Grüner Star) oder zu einer Trübung der Augenlinse (Grauer Star).
Auch kann sich die Netzhaut bzw. Retina ablösen oder Löcher bekommen – oder die Stelle des schärfsten Sehens in der Retina verliert ihre Funktion. Weiter ist eine die Sehzellen in der Netzhaut schädigende Blutgefässneubildung, die von der Aderhaut ausgeht, möglich.
Das alles kann gefährlich werden, weil im schlimmsten Fall eine schwere Sehbeeinträchtigung oder sogar Erblindung drohen.
Die Spätfolgen betreffen etwa eine*n von zehn Kurzsichtigen, meist erst im höheren Erwachsenenalter. Regelmässige Kontrollen sind daher ratsam. Am besten sollte man bereits im Kindesalter versuchen, das Entstehen oder das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit möglichst zu verhindern – wie bei der sechsjährigen Laura.
Praktische Tipps aus der Myopie-Infobroschüre von Retina Suisse
In ihrer Myopie-Broschüre informiert Retina Suisse unter anderem über frühzeitige Massnahmen. Denn die Entwicklungzur Kurzsichtigkeit kann schon ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr einsetzen. Die Myopie lässt sich dann gleich entdecken, auch wenn die meisten Kinder ihre Kurzsichtigkeit erst im Schulalter bemerken.
Retina Suisse gibt in ihrer Info-Broschüre eine Reihe von Tipps, um die Belastung für die Augen langfristig zu senken. Zwei Massnahmen haben sich als äusserst wirksam gegen die Entwicklung oder im Umgang mit bereits vorhandener Kurzsichtigkeit erwiesen:
• Täglich mindestens zwei Stunden bei Tageslicht im Freien verbringen:Jede zusätzliche Stunde, in der sich Kinder im Freien aufhalten, senkt die Belastung um zwei Prozent.
• Nur begrenzte Zeit an Bildschirmen Naharbeit verrichten:
-Am besten nach der 20–20–20–Regel: Nach 20 Minuten Bildschirmzeit für 20 Sekunden den Blick in die Ferne (mindestens 20 Fuss = 6 Meter) richten.
-Mindestens 20 Zentimeter Abstand bei Naharbeit einhalten und dabei auf gute Beleuchtung achten.
• Auch die Ernährung könnte eine Rolle spielen:
-Neue tierexperimentelle Studien haben gezeigt, dass ein Mangel an Omega-3-Fettsäuren (u.a. in Fisch und Nüssen zu finden) zu Durchblutungsstörungen in der Aderhaut des Auges führt. Dies schwächt die benachbarte Aussenschicht des Auges, die Lederhaut, was wiederum ein zu starkes Längenwachstum des Augapfels begünstigt.
-Bei Mäusen und Meerschweinchen verhinderte die tägliche Fütterung mit Omega-3-Fettsäuren die Entwicklung einer Myopie.
-Ob eine Umstellung der Ernährung oder eine Behandlung mit «Fischöl»-Kapseln bei kurzsichtigen Kindern wirksam wäre, ist bisher nicht untersucht worden. Eine randomisierte Studie bei Menschen könnte in diesem Zusammenhang sinnvoll erscheinen (randomisiert bedeutet, dass Teilnehmende per Zufall verschiedenen Gruppen zugeteilt werden, die unterschiedlichen Behandlungen oder Bedingungen ausgesetzt sind).
Schülerin Laura hat zusammen mit ihren Eltern bereits in der Broschüre geschmökert, die auch vereinfachte Abbildungen enthält. Und wenn Laura die beschriebenen Übungen regelmässig macht, hat sie gute Chancen, keine Folgeschäden zu erleiden.
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Infos von Retina Suisse zu Myopie
Myopie-Chat von «SRF Puls» mit Stephan Hüsler, dem Geschäftsleiter von Retina Suisse
Quellen:
• Myopie-Prävalenzstudie: Lancet Regional Health – Europe (2025; DOI: 10.1016/j.lanepe.2025.101319) + aerzteblatt.de – Myopie
• Vision Institute Sidney: (Ophthalmology 2016; DOI: 10.1016/j.ophtha.2016.01.006)
• Omega-3-Fettsäuren – aerzteblatt.de + PNAS 2021; DOI: 10.1073/pnas.2104689118)

