Im Bild zu sehen sind (von links nach rechts): Gesprächsmoderator Jean Seiler, Nadia Dürmüller und ihr sehbehinderter Ehemann Hampi Dürmüller, während der Generalversammlung von Retina Suisse vom April.
Ist ein Familienmitglied von einer fortschreitenden Sehbehinderung betroffen, verändert sich das Leben der ganzen Familie. Vieles ist nicht mehr wie vorher und fühlt sich an wie ein Neustart. Die Familie Dürmüller hat darüber öffentlich diskutiert.
Jean Seiler, jean.seiler@retina.ch: Gesprächsmoderation und Aufzeichnung
Tischgespräch mit Nadja und Hampi Dürmüller an der Generalversammlung von Retina Suisse am 27. April 2024
Mit einer fortschreitenden Sehbehinderung erhalten die Beziehungen innerhalb einer Familie eine andere Form. Es ist, wie wenn ein neuer Schlüsselbund in die Hand gedrückt wird: Welcher Schlüssel passt jetzt und welcher geht nicht mehr? Vieles muss neu definiert und austariert werden. Erst recht, wenn noch drei Kinder, wie bei Familie Dürmüller, da sind. Passen die Schlüssel auch für die Kinder?
Schlüssel Kommunikation
Jean: Eine klare und wirksame Kommunikation vermeidet Missverständnisse, ermöglicht es uns, unsere Gedanken und Gefühle mitzuteilen, was dazu führt, dass wir uns gehört und geschätzt fühlen. Eine offene Kommunikation ist der Schlüssel, um Vertrauen aufzubauen, Konflikte zu lösen und eine tiefe Verbundenheit herzustellen. Wie sieht das bei Euch in der Praxis aus?
Nadja: Ein Beispiel: Einkaufen gehe ich gerne allein, damit ich schneller durch bin und ich Hampi nicht nachziehen muss und er sich als Anhängsel fühlt.
Hampi: Ich möchte ja nur dabei sein und aktiv teilhaben, und dies ist schon ein typisches Missverständnis. Nadja meint es ja nicht böse, sondern im Gegenteil, sie möchte mir den Stress ersparen.
Nadja: Ein anderes Beispiel: Am Hotelbüffet hole ich für Hampi die Speisen gleich mit.
Hampi: Ich musste mir eingestehen, dass ich am Büffet viel zu lange brauche, um die Speisen zu begutachten und auf meine Teller zu legen.
Nadja: Der Verlust auf beiden Seiten ist, dass immer ich organisiere und Hampi gerne würde – aber nicht kann. Zum Beispiel Kinder bringen und holen oder Kollegen helfen.
Schlüssel Inklusion
Jean: Inklusion beginnt zu Hause in der Familie. Gelebte Inklusion. Wie schafft man das? Eine fortschreitende Sehbehinderung wie Retinitis Pigmentosa hat ihre Tücken. Gleich einer Salamitaktik geht schleichend dies und das nicht mehr wie gehabt. Am Bisherigen festzuhalten ist sinnlos. Wer übernimmt jetzt welche Rollen und Aufgaben? Und wie soll das gehen, damit Hampi sich nicht im Abseits fühlt?
Hampi: Kleine Sachen einkaufen, in der Nähe und ohne Stress, geht noch problemlos in der Migros, einfach mit mehr Zeitaufwand. Oder die Kinder in der Nähe holen und bringen geht zu Fuss auch. Grössere Sachen muss dann meine Frau organisieren und mit dem Auto bewältigen. Ich bin froh, dass Nadia nicht einfach sagt, ich mach das selber…
Nadja: Manchmal vergisst man einfach die Krankheit, dann kann es vorkommen, dass Hampi einfach mal stehen bleibt und ich oder die Kinder ihn wieder bei der Schulter einklinken müssen. Oder wie kürzlich in einem Restaurant: Wir gehen hinein und fragen, ob es für uns Platz hat. Die Bedienung weist uns einen Tisch zu, und beim Absitzen stelle ich fest, dass wir Hampi am Eingang vergessen haben.
Schlüssel Freizeit und Ferien
Jean: Was geht, was geht nicht mehr: Ferien sind ja nicht nur einfach Freude, Friede, Eierkuchen. Ferien haben manchmal auch Konfliktpotential. Wie schafft es eine Familie, die Ferien neu zu erfinden?
Nadja: Bisher gingen wir zelten, das heisst, Hampi hat das Zelt aufgebaut, was aber jetzt wegen der Sehbehinderung nicht mehr funktioniert. Also haben wir uns einen Wohnwagen zugelegt, mit dem wir in die Ferien fahren. Da nur ich Auto fahren kann und wir uns nicht abwechseln können, habe ich die Fahrzeit auf maximal fünf Stunden begrenzt. Hampi konnte längere Fahrten absolvieren. Auf dem Zeltplatz hilft er, so gut es geht, beim Stellen und Einrichten.
Hampi: Die Kinder zeigen mir die WCs und Duschen, somit kann ich später auch mal allein zum Toilettenhäuschen gehen. Gemeinsam erkunden wir auch den ganzen Campingplatz in aller Ruhe, damit ich eine ganzheitliche Orientierung habe.
Nadja: Ballspiele sind dann wieder mein Part, wo mein Mann bei den Karten- oder Brettspielen wieder dabei ist.
Hampi: Grillen geht mit der Grillzange nicht mehr so gut. Also habe ich mir Grillhandschuhe aus hitzebeständigem Silikon zugelegt. Es braucht jeder einen eigenen Teil im Leben mit Kolleg*innen, damit man nicht nur auf den Partner fixiert ist. Ich gehe zum Beispiel walken, schwimmen, eisbaden, saunieren oder gemütlich essen.
Nadja: Ich habe meinen Turnverein oder gehe Skifahren und besuche Escape-Rooms.
Schlüssel Familie
Jean: Wie geht Ihr damit um, wenn etwas nicht so rund läuft?
Hampi: Wenn ein Missgeschick passiert, nervt es innerlich meistens enorm. Aber meine Frau beruhigt mich dann wieder. Oder wenn es schwerwiegender ist, schweige ich meistens und kann erst am nächsten Tag darüber sprechen.
Nadja: Ich merke es relativ schnell, wenn bei Hampi etwas falsch läuft oder gelaufen ist.
Jean: Kinder wachsen mit der Situation Sehbehinderung in der Regel ganz natürlich auf. Wie sieht das bei Euch aus?
Hampi: Wenn die Kinder etwas nicht gern essen, dann kann es vorkommen, dass ich plötzlich etwas mehr in meinem Teller habe. Oder wenn wir als Familie einkaufen gehen, schnappt mich der Jüngste und sagt: «Mama, ich gehe mit Papa etwas anschauen» – und ohne, dass ich es merke, landen wir in der Spielzeugabteilung.
Nadja: Zu Hause ist es für die Kinder meistens klar, dass sie auf dem Boden ihre Sachen so ausbreiten, dass für Papi genügend Platz zum Hin-und-hergehen bleibt.
Schlüssel Beziehung
Jean: Was ist Euch für Eure Beziehung wichtig?
Hampi: Für unsere Beziehung ist es wichtig, wenigstens einmal im Jahr Zeit nur zu zweit zu verbringen. Das kann ein verlängertes Wochenende mit Wellness sein oder ähnlich. Wir legen sehr viel Wert auf eine offene und ehrliche Kommunikation, denn nur wenn man dem Partner alles sagen kann, führt das zu gegenseitigem Vertrauen. Manchmal möchte man die ehrliche Antwort nicht hören, weil es schmerzt. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt, trifft es dann doch zu.
Fazit
Jean: Eine Sehbehinderung ist eine Herausforderung für die Familie! Stichworte sind «nicht wahrhaben wollen, Hilfe bieten bzw. annehmen oder nicht annehmen, Verluste auf beiden Seiten…» Im neuen Schlüsselbund haben Schlüssel wie Vertrauen, Verlässlichkeit, Respekt, Ehrlichkeit, Offenheit und gegenseitiges Verständnis eine zentrale Bedeutung. Nicht nur die sehbehinderte Person ist betroffen, sondern auch die Partnerin oder der Partner. Nur gemeinsam geht es vorwärts, und die Beziehung kann sogar gewinnen. Inklusion beginnt zu Hause!
Nadja: Absolut! Und gell, Hampi: Solltest du einmal wieder genügend sehen können, schenke ich dir einen Schlüssel zu einem r o t e n Ferrari…
Apropos Foto: Als wir nach der GV das Hotel Bern verliessen, was stand vor dem Hoteleingang? Ein roter Ferrari, welch ein Zufall! Hampi, mit weissem Stock in der Hand, leuchteten die Augen.