Die ehemalige Präsidentin von Retina Suisse, Susanne Trudel (53), ist ab Dezember 2025 die neue Geschäftsleiterin der Patient*innenorganisation. Im Gespräch äussert sich die Schaffhauserin über ihre Pläne – und erzählt, wie ihr Einstieg bei Retina Suisse war.
Interview: Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch;
Frau Trudel, Sie sind daran, Ihre neue Stelle als Geschäftsleiterin von Retina Suisse anzutreten. Ausserdem sind Sie selbst eine Betroffene, sie leben mit Retinitis pigmentosa. Haben Sie also Ihren Traumjob gefunden?
Susanne Trudel: Das kann man tatsächlich so sagen. Mein neuer Arbeitsbereich hat viel mit Medizin zu tun, und die ist seit meiner ersten Ausbildung zur Pflegefachfrau meine Leidenschaft. Ausserdem liegt mir sehr am Herzen, dass Menschen mit Sehbehinderung nach der Diagnose eine Beratung auf Augenhöhe erhalten – genau das ist eine der Stärken von Retina Suisse.
Warum haben Sie sich für diese Funktion bei Retina Suisse beworben? Sie hatten vorher auch eine sehr spannende Stelle, als Leiterin eines Teams im Bereich Sozialberatung.
Ich will mich beruflich weiterentwickeln. Als neue Geschäftsleiterin von Retina Suisse kann ich meine Fähigkeiten voll einbringen, aber es gibt auch Neues, das ich gerne lerne. Insgesamt habe ich bei Retina Suisse ein dynamisches Umfeld, und genau das liebe ich. Ausserdem ist das interne Arbeitsteam spitze, es beflügelt mich. Mein langjähriger Vorgänger im Amt, Stephan Hüsler, hat wertvolle Auf- und Ausbauarbeit geleistet, so dass alles läuft wie geschmiert, wenn ich das so sagen darf.
Danke im Namen des ganzen Teams für das Kompliment! Was wollen Sie als neue Geschäftsleiterin zuerst in Angriff nehmen?
Ich möchte unser Informationsangebot weiter stärken, damit die Betroffenen möglichst gute Perspektiven für die Zukunft haben. Sie sollen immer genauer wissen, was die Diagnose Ihrer Augenkrankheit für sie bedeutet und welches die aktuellen und künftigen Therapien sind – und wie sie ihren Alltag trotz Sehbehinderung aktiv gestalten können.
Sie möchten also auch die Beratung weiter ausbauen.
Retina Suisse besetzt eine sehr spannende Nische: Wir informieren und beraten nicht einfach blinde Menschen, sondern Personen mit leichten Seheinschränkungen bis hin zu solchen mit gravierenden Sehproblemen. Das ist eine Nische, in der wir deutlich wachsen können.
«Mir liegt am Herzen, dass wir am Puls der ophthalmologischen Forschung bleiben, wegen neuen wirksamen Therapien.»
Wie weit denn wachsen?
Das mittelfristige Ziel ist: Retina Suisse wird zur wichtigsten Anlaufstelle für Menschen, welche die Diagnose einer Augenerkrankung erhalten haben und nun wissen wollen, wie es weitergehen soll. Ich denke da an Betroffene mit Netzhautproblemen, aber auch an Menschen mit anderen relevanten Augenkrankheiten.
Sie wollen praktisch die ganze Bandbreite abdecken.
Wir können zur wichtigsten Anlaufstelle für alle diese Menschen in der Schweiz werden. Ich bin überzeugt davon, dass es genau diese Art von Information und Beratung dringend braucht nach Erhalt einer Diagnose. Ausserdem sind wir eine gesamtschweizerische Patient*innenorganisation, also soll auch die Präsenz in der französischen und italienischen Schweiz gestärkt werden.
Was liegt Ihnen persönlich am meisten am Herzen?
Dass wir immer am Puls der ophthalmologischen Forschung bleiben, wegen neuen wirksamen Therapien. Denn das ist das Erste, was aktuell in unsere Beratung einfliessen und deren hohe Qualität erhalten kann. Daher müssen wir unser Netzwerk in der Wissenschaft pflegen und weiter ausbauen.
Dem neuen Präsidenten von Retina Suisse wiederum liegt die Digitalisierung am Herzen. Diese solle in die Beratungstätigkeit der Patient*innenorganisation integriert werden, sagt Laurent Delétraz.
In der Tat, beim Trend zur Digitalisierung müssen wir stark mitziehen. Auch an meiner vorherigen Arbeitsstelle war das in den letzten Jahren ein grosses Thema. Digitalisierung hängt eng mit agilem Arbeiten zusammen. Für mich bedeutet das: offen für neue Entwicklungen sein, Veränderungen aktiv wahrnehmen und mit Interesse auf aktuelle Trends reagieren.
Was heisst das konkret für Retina Suisse?
Die Digitalisierung kann bei uns in der Aufarbeitung und Bereitstellung von ophthalmologischem Forschungs- und Therapiewissen stattfinden. Anders gesagt, sie wird in unseren Informationsservice integriert.
«Für mich war die Diagnose Retinitis pigmentosa eine Zufallsdiagnose – und ein Riesenschock.»
Aber das können die Klient*innen auch direkt am eigenen Computer machen, indem sie die künstliche Intelligenz über ihre jeweilige Augenerkrankung befragen.
Natürlich nutzen unsere Klient*innen die künstliche Intelligenz, um sich zu informieren. Aber wir von Retina Suisse können alle Informationen immer korrekt einordnen und garantieren, dass unsere Aufbereitungen von neusten ophthalmologischen Erkenntnissen wissenschaftlich fundiert sind. Sie weisen eine hohe Qualität auf bleiben und absolut seriös – so dass auch keine falschen Hoffnungen entstehen.
Wie war das bei Ihnen, als Sie ihre Diagnose erhielten?
Die Diagnose kam, als ich 25 Jahre alt war, und es war ein Riesenschock. In einem solchen Alter hat man noch viele Pläne: Ich wollte beruflich weiterkommen und auch reisen.
Hat Ihre Retinitis pigmentosa mit Nachtblindheit begonnen?
Nein, die Diagnose war reiner Zufall. Nach einer Nachtwache im Spital von Schaffhausen hatte ich einen schwimmenden Fleck im Sichtfeld. Also ging ich zum Augenarzt, und dieser erklärte, es sei eine harmlose Trübung. Jedoch entdeckte er gleichzeitig Veränderungen an der Netzhaut und verwies mich für eine genauere Abklärung an die Augenklinik des Kantonsspitals St. Gallen. Dort wurde die Diagnose gestellt.
Sie hatten zum Zeitpunkt der Diagnose keine Sehprobleme?
Ich hatte keine Einschränkungen, konnte normal arbeiten und Auto fahren. Ein unbeschwertes Leben, das dann anders werden sollte, so lautete der quälende Gedanke.
Sie sorgten sich wegen der Arbeit, die Sie verlieren würden?
Ich hatte eine spannende Stelle als Pflegefachfrau in der Chirurgie am Schaffhauser Kantonsspital. Der Betrieb war lebhaft, es passierten immer wieder unvorhergesehene Dinge. Das war eine Herausforderung, die mir gefiel. Dort habe ich gelernt, was es heisst, in einem sensiblen Umfeld improvisieren zu müssen.
Ihnen wurde also schnell klar, dass Sie aufgrund der Diagnose bald auf eine andere Tätigkeit umschulen mussten.
Ich bin ein Mensch, der selbstbestimmt leben und selber entscheiden will. Dank meiner medizinischen Kenntnisse wusste ich gleich, was die Diagnose zu bedeuten hatte: Als Pflegefachfrau hatte ich keine Zukunft mehr. Ich musste meine Herzensarbeit aufgeben. Immerhin nicht sofort, sondern erst mittelfristig.
Welche neue Tätigkeit fanden Sie?
Eine Kollegin begann ein Studium im Bereich Soziale Arbeit und erzählte mir davon. Das hat mich inspiriert, und so absolvierte ich ein Studium für Soziale Arbeit, und zwar vollzeitlich. Danach konnte ich weiter mit Menschen arbeiten. Auch meine Kenntnisse als Pflegefachfrau brachte ich ein.
Und wie war die Jobsuche?
Ich musste nur wenige Bewerbungen schreiben, dann hatte ich eine Stelle in der Sozialberatung. Auf diesem Gebiet habe ich nun in den vergangenen 18 Jahren gearbeitet, die letzten drei Jahre davon als Teamleiterin.
Da haben Sie viele wertvolle Erfahrungen gemacht.
In diesen zwei Jahrzehnten hat sich sehr vieles verändert, es kamen immer neue Inputs von Gesellschaft und Politik, mit denen ich mich auseinandersetzte. Das bedeutete, dass ich selbst und mein Team, dass also wir uns laufend anpassten und uns neu organisierten. Diese Herausforderung hat mir immer sehr viel Freude bereitet.
«Ich versuche alles immer dreimal, bevor ich sage, es gehe nicht.»
Das war eine ideale Vorbereitung auf Ihre neue Leitungsfunktion bei Retina Suisse. Wie sind Sie eigentlich auf diese Patient*innenorganisation gestossen?
Nach der Diagnose habe ich mich mithilfe von Online-Verzeichnissen informiert, welche Beratungsstellen es im Sehbehindertenwesen gibt. Dabei habe ich Retina Suisse entdeckt. Spontan habe ich angerufen und eine Reihe von Beratungssitzungen mit der jetzigen Ehrenpräsidentin von Retina Suisse, Christina Fasser, besucht. Christina hat mir sehr geholfen, mental wie auch in Bezug darauf, wie ich mit meiner immer stärker werdenden Seheinschränkung ein aktives Leben führen konnte.
Apropos Seheinschränkung, wie viel sehen Sie noch?
Ich habe einen ziemlich engen Tunnelblick, kann aber noch am PC arbeiten und weisse Schrift auf schwarzem Grund lesen. Ein paar Zeilen jeweils, denn es ist anstrengend. Gesichter erkenne ich nicht mehr und kann auch die erblickten Gegenstände meist nicht identifizieren. In mir vertrauten Räumen orientiere ich mich gut, das heisst, je nach Lichtverhältnissen, und stark blendempfindlich bin ich auch. Ausserdem ist der weisse Stock mein ständiger Begleiter.
Weil Sie damals mit der Beratung sehr zufrieden waren, sind Sie Mitglied von Retina Suisse geworden.
Ich hatte gleich das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Das war 1998. Später, nach meiner beruflichen Umorientierung, habe ich gespürt, dass die Zeit für ein soziales Engagement auch ausserhalb des Jobs gekommen war – und zufällig erfolgte zur selben Zeit der Aufruf von Retina Suisse, sich als Mitglied im Vorstand zu bewerben.
Wann war das?
Im Jahr 2015.
Aber seit 2015 waren Sie ja Präsidentin von Retina Suisse, bis April 2025.
Ich wurde von der GV nicht nur in den Vorstand gewählt, sondern auch gleich zur Präsidentin gemacht (lacht). Man hatte mich nämlich kurzfristig angefragt, auch dafür zu kandidieren. Mein damaliger Vorgänger Stephan Hüsler wurde zu jenem Zeitpunkt Geschäftsleiter von Retina Suisse, und somit war das Präsidium neu zu besetzen.
Was machen Sie ausserhalb Ihres beruflichen Lebens, was sind Ihre Hobbies?
Als Ausgleich zum kopflastigen Arbeitsalltag treibe ich Sport, das heisst, ich gehe in den Fitnessklub. Ausserdem besuchen mein Partner und ich seit zwanzig Jahren Tanzanlässe, jede Woche. Und schliesslich spiele ich gerne Showdown.
Showdown, das ist Tischtennis für Menschen mit Sehbehinderung, wir haben darüber berichtet. Letzte Frage: Was ist Ihr Lebensmotto?
Ich habe zwei Grundsätze. Erstens versuche ich alles immer dreimal, bevor ich sage, es gehe nicht. Zum anderen gibt es diesen Song der Band «Züri West» mit dem Mundart-Titel «Fingt ds Glück eim»: Bandleader Kuno Lauener singt darin in seinem Berner Dialekt den Satz «Irgendwo geht immer eine Tür auf». (November 2025)

