Stephan Hüsler: Der Abschied naht, die Überlegungen zur Sozialpolitik bleiben

Sehr geehrte Damen und Herren, es fällt mir schwer, die passenden Worte zu meinem nahenden Abschied als Geschäftsleiter von Retina Suisse zu finden. Was soll ich schreiben? Was ist wert, erwähnt zu werden, und was kann ich auslassen?

Nach verschiedenen abgebrochenen Versuchen habe ich mich entschieden, etwas über Sozialpolitik zu schreiben. Dieses Jahr hat es in sich, es laufen einige Gesetzesprojekte, die auf unser Leben grossen Einfluss haben werden.

Umsetzung des neuen Tarifsystems

Der Bundesrat verabschiedete im Mai die Umsetzung des neuen gesamtschweizerischen Tarifsystems für ambulante ärztliche Leistungen (Tardoc) per 2026. Damit wird die in die Jahre gekommene, seit 2004 geltende Tarifstruktur (Tarmed) abgelöst. Gemäss Bundesrat soll die Umsetzung kostenneutral erfolgen. In einer ausführlichen Stellungnahme habe ich aufgezeigt, dass wir von Retina Suisse von dieser Kostenneutralität nicht überzeugt sind.

Im neuen Tarif sind nämlich 312 ambulante Fallpauschalen enthalten, allein für die Augenheilkunde sind es 21. Dies bedeutet, dass für eine ambulante Behandlung sämtliche anfallenden Kosten, also auch die Medikamente oder Implantate, die Anästhesie oder die Pathologie miteingeschlossen sind.

Die häufigste Anwendung dürfte wohl die Behandlung der feuchten Altersbedingten Makuladegeneration sein. Die Preise für die Originalmedikamente sowie die ärztliche Handlung sind durch die Fallpauschale nur knapp gedeckt. Viele Augenärzt*innen werden deshalb für die Voruntersuchung ihre Patient*innen an einem anderen Tag einladen. So können diese Kosten separat abgerechnet werden.

Viele Ärztinnen und Ärzte werden die viel günstigeren Biosimilars verwenden, die in der Tendenz häufiger gespritzt werden müssen. Damit sind mehr Behandlungen durchzuführen. Kurz: Die Sachlage ist kompliziert und in wenigen Sätzen kaum zu erklären. Deshalb verweise ich Sie hier auf die ausführliche Stellungnahme auf unserer Webseite unter diesem Link.

Inklusion, wie sie der Bundesrat will?

Vor kurzem habe ich unsere Vernehmlassungsantwort auf den Vorentwurf zum neuen Inklusionsgesetz fertig geschrieben. Dieses Gesetz soll als indirekter Gegenvorschlag zur Inklusionsinitiative dienen. Im Vorentwurf ist auch ein Abschnitt über eine Teilrevision des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG) enthalten.

Beide Vorschläge des Bundesrates enttäuschen. Er verpasst es im Inklusionsgesetz, die Forderungen des Uno-Ausschusses über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu erfüllen, die er im Initialstaatenbericht erhoben hat.

So gibt es zum Beispiel keine wirklichen Anstrengungen zu einer Deinstitutionalisierung. Menschen mit Behinderungen sollen frei wählen können, wo und wie sie mit wem leben möchten. Das Gegenteil ist der Fall. Beispielsweise wird das Bundesgesetz zur Förderung der Eingliederung Behinderter (IFEG) weiter gestützt.

Auch die Vorschläge zur Revision des IVG sind unbefriedigend. Es gibt keine Vorschläge zur Ausweitung der Assistenz-Anspruchsberechtigten auf Menschen mit einer Hörbehinderung, und auch Angehörige dürfen weiterhin nicht Assistenz leisten.

Im Bereich der Hilfsmittel gibt es sogar planwirtschaftliche Tendenzen. Setzt man das Gesetz so in Kraft, wird es viel schwieriger sein, unter dem Titel «Austauschbefugnis» ein Hilfsmittel zu wählen, das nicht auf der entsprechenden Liste des Bundes steht.

«Bekämpfung» seltener Krankheiten

Und zuletzt ist da noch das neue Bundesgesetz zur Bekämpfung seltener Krankheiten. Der Bundesrat hat die Publikation dieses Gesetzestextes immer wieder hinausgeschoben. Jetzt wurden wir endlich zur Vernehmlassung eingeladen und sind daran, zusammen mit ProRaris – Allianz für seltene Krankheiten, eine Vernehmlassungsantwort zu entwerfen.

Beim ersten Durchlesen ist uns das kriegerische Vokabular aufgefallen. Das finden wir unnötig und werden einen anderen Titel für das Gesetz vorschlagen. Aber grundsätzlich beurteilen wir das Gesetz positiv. Die Diskussionen der Details werden uns verstehen helfen, ob das Gesetz den Menschen mit einer seltenen Krankheit wirklich nützt, so dass wir auch konstruktive Beiträge zur Verbesserung vorbringen können.

Unterwegs mit der Nachfolgerin

Jetzt ist genug prokrastiniert. Jetzt kann ich es nicht mehr hinausschieben: Am 30. November übergebe ich die Verantwortung für die Geschäftsleitung von Retina Suisse an unsere frühere Präsidentin Susanne Trudel. Wir sind seit Anfang Oktober täglich miteinander unterwegs, beraten gemeinsam Klient*innen, besuchen Gesprächsgruppen, treffen wichtige Vertreter*innen von Partnerorganisationen, haben da und dort Sitzungen mit unseren Partnern aus der Industrie. Wir planen das nächste Jahr. Wir sind also intensiv mit der Einführung beschäftigt.

Und ich bin glücklich: Ich darf meiner Nachfolgerin eine sehr gut funktionierende Organisation übergeben. Wir haben hervorragende Mitarbeiter*innen und einen ebensolchen Vorstand, mit denen die Zusammenarbeit eine wahre Freude ist. In der ganzen Schweiz haben wir treue Mitglieder, die unsere Organisation oftmals seit vielen Jahren unterstützen – ja, das sind Sie, liebe Leserin, lieber Leser!

Ich danke Ihnen allen für die vielen Begegnungen und Gespräche, die wir in den letzten elf Jahren geführt haben. Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das sie in mich und meine Mitarbeiter*innen gesetzt haben, und bitte Sie herzlich, dies auch in Zukunft zu tun.

Mit Susanne Trudel haben wir eine kompetente Geschäftsleiterin gefunden. Sie kennt die Ängste und Nöte von uns Menschen mit einer Netzhautkrankheit aus eigener Erfahrung.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen, meiner Nachfolgerin Susanne Trudel und dem ganzen Team von Herzen alles Gute – und keine Angst, wir werden uns bestimmt wieder sehen.

Herzlich, Ihr Stephan Hüsler

(Oktober 2025)

Podcast-Interview mit Stephan Hüsler bei „imBLINDPUNKT.ch“

Artikel NZZ am Sonntag mit Stephan Hüsler: „Retinitis pigmentosa – das Leben mit dem Tunnelblick“