Wer eine Genanalyse macht, hat bessere Chancen auf eine Therapie

Bei einer erblichen Augenerkrankung liegt ein Gentest nahe. Denn nur die genaue Identifizierung des «kaputten» Gens ermöglicht eine präzise Diagnose und eine künftige wirksame Behandlung.

Von Stephan Hüsler, Geschäftsleiter Retina Suisse, und Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch

Es ist eine erstaunliche Tatsache: Kein anderes Organ des menschlichen Körpers ist von so vielen Krankheiten betroffen wie das Auge. Man kennt über 900 ophthalmologische Erkrankungen, und viele davon entstehen durch Veränderungen in einzelnen Genen.
Mittlerweile sind mehr als 550 Gene bekannt, die bei Augenkrankheiten eine Rolle spielen. Nach heutigem Wissensstand können Veränderungen in 325 dieser Gene eine Krankheit in Verbindung mit einer Netzhautdegeneration auslösen.

Somit sind die meisten Arten von Netzhautdegenerationen auf Veränderungen bestimmter Gene zurückzuführen. Liegt eine solche erbliche, das heisst genetische Ursache vor, spricht man von Netzhaudystrophien beziehungsweise Retinadystrophien. Dazu gehören zum Beispiel Retinitis pigmentosa, Morbus Stargardt, Morbus Best, verschiedene Zapfen-Stäbchen-Dystrophien, das Usher-Syndrom oder das Bardet-Biedl-Syndrom. Sie alle gelten als sogenannt seltene Krankheiten.

Die Situation wird schnell kompliziert

Allein für Retinitis pigmentosa (RP) konnte man bisher über 110 Gene als Verursacher identifizieren. Und statistisch geht man davon aus, dass auf 4000 gesunde Personen ein Mensch kommt, der RP hat. Dies zeigt, dass trotz des Status «selten» die Zahl der Betroffenen gar nicht so gering ist. Retinitis pigmentosa zählt zu den häufigsten erblich bedingten Netzhauterkrankungen und zu den häufigsten Ursachen für Sehverlust im mittleren Erwachsenenalter.

Netzhautdystrophien werden in der Regel durch ein einzelnes Gen ausgelöst. Dennoch wird die Situation schnell kompliziert, weil mehrere Gene für dieselbe Erkrankung verantwortlich sein können. Zudem ist es möglich, dass unterschiedliche Mutationen innerhalb desselben Gens verschiedene Netzhautdystrophien hervorrufen.

Ein Beispiel ist das Gen «ABCA4», das je nach Mutation Morbus Stargardt, eine Zapfen-Stäbchen-Dystrophie oder Retinitis pigmentosa verursachen kann. Bei Morbus Stargardt ist es überdies so, dass für 90 Prozent der Fälle Mutationen im Gen «ABCA4» verantwortlich sind, während die ie übrigen 10 Prozent auf Mutationen in anderen Genen wie «CNGB3», «ELOVL4», «PRPH2» und «PROM1» entfallen (siehe https://www.orpha.net/de/disease/gene für weitere Informationen). Das bedeutet: Dieselbe Krankheit kann komplett verschiedene genetische Ursachen haben – und Vererbungswege.

Eine Gen-Datenbank für bessere Forschung und Behandlung

Viele Betroffene wissen gar nicht, woran genau sie erkrankt sind. Sie wissen lediglich, dass ihre Diagnose zum Beispiel RP lautet und dass es dafür keine Therapie gibt. Deshalb fragen sie auch nicht nach, was ihnen eine Genanalyse bringt.

Dabei ist mittlerweile völlig klar geworden: Die augenärztliche Diagnose einer Netzhautdystrophie lässt sich einzig durch einen Gentest sicher bestätigen. Und nur wer «sein» Gen kennt, wird bessere Chancen auf eine künftige wirksame Behandlung seiner Netzhautdystrophie haben. Denn die meisten verfügbaren Therapien zeitigen noch wenig Erfolg. Aber wenn das verantwortliche Gen identifiziert ist, können Patientinnen und Patienten auf neue klinische Studien und Therapieversuche aufmerksam gemacht werden.

Immerhin ist seit 2022 die erste Gentherapie in der Schweiz zugelassen, weitere befinden sich in der Entwicklung. Wichtig dabei ist: Die ophthalmologische Forschung kommt schneller voran, je mehr Informationen über die in der Schweiz auftretenden Netzhautdystrophien vorliegen. Deshalb unterstützt Retina Suisse den weiteren Ausbau eines nationalen Patientenregisters. Menschen mit einer erblichen Netzhautkrankheit können den genauen Typ ihrer Krankheit durch Genanalyse bestimmen und in einer Datenbank eintragen lassen.

Gen-Register von Retina Suisse trägt erste Früchte

Retina Suisse unterstützt seit 2018 den Aufbau eines Patientenregisters am Inselspital Bern. Dieses wird von Prof. Dr. Pascal Escher, Forschungsgruppenleiter Ophthalmogenetik, geführt und soll nun ins neue Schweizer Register für seltene Krankheiten (SRSK) integriert werden.

Im SRSK sind die genauen genetischen Daten und weitere wichtige Informationen für die Forschung und klinische Studien gespeichert. In diese Datenbank können sich alle Menschen mit einer seltenen Krankheit eintragen lassen. Das SRSK ist Teil des Nationalen Plans für Seltene Krankheiten, der vom Bundesrat bereits 2014 verabschiedet wurde.

Dank Professor Eschers Einsatz für die Betroffenen umfasst das Retina-Suisse-Patientenregister bereits über 1800 Einträge. Zudem hat es auch erste Früchte getragen: So wurden Kontakte zu Forschenden in den USA, Grossbritannien, den Niederlanden, Belgien und Schweden aufgebaut oder intensiviert. In einigen Fällen hat dies zu gemeinsamen Forschungsprojekten geführt. Darüber hinaus konnten Patientinnen und Patienten an Studienzentren im In- und Ausland vermittelt werden.

Der Nutzen für die Betroffenen ist vielfältig

Ein Gentest und die Eintragung in die Gen-Datenbank bringen für Patientinnen und Patienten folgende Vorteile:

● zuverlässige Diagnosen erhalten;

● von therapeutischen Möglichkeiten erfahren;

● vorsichtige Prognosen bezüglich Krankheitsverlauf erhalten;

● Informationen zur Vererbung der Krankheit und eine Grundlage für die Familienplanung zur Verfügung haben;

● Kenntnisse erlangen über klinische Studien in der Schweiz und in den angrenzenden Ländern;

● für die Forschung das Bild vervollständigen über die Art und Häufigkeit erblicher Netzhautdystrophien in der Schweiz sowie über das typische Alter bei Ausbruch der jeweiligen Krankheit sowie weitere klinische Studien ermöglichen.

Rascher Zugang zu neuen Therapien

Das Fazit lautet: Mit dem Eintrag im Register haben Betroffene künftig rascheren Zugang zu neu entwickelten Therapien. Denn nur wenn das defekte Gen erforscht ist, kann es auch behandelt werden. Die fortschreitende Verschlechterung des Augenlichtes lässt sich eher verlangsamen, wenn die betroffenen Menschen dank ihrer Registrierung in der Datenbank schnell und direkt für eine Therapie ihres Gendefektes kontaktiert werden können. Und je früher behandelt werden kann, desto grösser ist der Erfolg. Daher ruft Retina Suisse mit dem Slogan «Kenne dein Gen!» Patientinnen und Patienten sowie deren Eltern zur Genanalyse auf.

Für einen Gentest genügt eine simple Entnahme von nur drei bis fünf Millilitern Blut. Betroffene wenden sich am einfachsten an ihre Augenärztin oder an ihren Augenarzt mit der Bitte um Zuweisung an ein Unispital oder ein Kantonsspital (Letzteres in den Kantonen Aargau, Luzern, St. Gallen und Tessin). Dort wird zuerst eine umfassende Augenuntersuchung durchgeführt. Anschliessend muss bei der Krankenkasse der Antrag auf Kostengutsprache gestellt werden. Liegt diese vor, lässt sich die Genanalyse durchführen.

Wichtig ist: Wer den Befund in das Patientenregister von Retina Suisse beziehungsweise das Schweizer Register für seltene Krankheiten eintragen möchte, kreuzt das entsprechende Feld auf dem Einverständnisformular an.

Interessierte Betroffene, die schon vor der Einrichtung der ophthalmologischen Datenbank im Jahr 2018 eine Gendiagnose erhalten haben oder deren Befund noch nicht im Patientenregister eingetragen ist, können dies nachholen. Retina Suisse sendet ihnen auf Anfrage das entsprechende Einverständnisformular zu. Das unterschriebene Formular können interessierte Personen dann zusammen mit dem Befundbrief zuhanden der Datenbank einsenden.

Je nach Ausgangslage und Aufwand kann die Genanalyse zwischen sechs und zwölf Monaten dauern. Ist die Auswertung erfolgt, erhalten die Betroffenen einen Bericht und haben somit auch Anspruch auf eine genetische Beratung.

Die Genanalyse hat eine hohe Erfolgsquote: Anhand der Bluttest-Resultate und der Unterlagen der augenärztlichen Untersuchungen kann gegenwärtig in bis zu 80 Prozent der Fälle der genaue ursächliche Gendefekt einer Netzhautdystrophie bestimmt werden.

Retina Suisse liefert alle Informationen rund um den Gentest

Retina Suisse steht im Rahmen ihrer kostenlosen Informations- und Beratungstätigkeit für Fragen rund um den Gentest zur Verfügung. Ausserdem lädt Retina Suisse auch Personen zur Kontaktierung ein, die bereits früher eine Gendiagnose machen liessen, damit sie die beim Inselspital befindliche Datenbank von Retina Suisse mit ihren Angaben ergänzen können (siehe weiter unten).

● Erste Anhaltspunkte sind unter diesem Link zu finden: https://retina.ch/angebote/kenne-dein-gen/

● Bestellung der Info-Broschüre zur Genanalyse (im Absatz «Die Genanalyse – für Diagnose und Therapie (Broschüre)»:
https://retina.ch/angebote/informationsmaterial/

● Auch wer in der Vergangenheit bereits eine Gendiagnose hat machen lassen, kann sich gerne an den Retina-Suisse-Geschäftsleiter Stephan Hüsler oder direkt an Prof. Escher vom Inselspital melden, um das Informations- und Einverständnisformular zu verlangen. So können Personen mit «älterem» Gentest die beim Inselspital befindliche Datenbank von Retina Suisse mit ihren Angaben ergänzen. Besagtes Formular müsste ausgefüllt und unterschrieben mit dem Befundschreiben des Labors an Prof. Escher geschickt werden: stephan.huesler@retina.ch und ophthalmogenetik@insel.ch (Kontakt Prof. Escher).

● Genereller Kontakt Retina Suisse: 044 444 10 77, info@retina.ch

(Die Erstveröffentlichung dieses Artikels ist in tactuel.ch am 3. März 2025 erfolgt)