Die Teilnahme an Alltag und Arbeit funktioniert – wenn bei allen der Wille da ist

Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen: Dieses Ziel strebt die Inklusions-Initiative an, die im April 2023 gestartet und mit 108’000 Unterschriften Anfang September 2024 bei der Bundeskanzlei eingereicht wurde. Die Oberwalliser Gesprächsgruppe von Retina Suisse hat dies zum Anlass genommen, um über die konkreten Möglichkeiten von Inklusion zu diskutieren.

Protokollierung und Redaktion: Mario Kämpfen, Leiter Gesprächsgruppe Retina Suisse Oberwallis, und Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch

Stichwort GLEICHBERECHTIGUNG

Im Hinblick auf Inklusion lautet das zentrale Stichwort «Gleichberechtigung». Doch was bedeutet das, ganz grundsätzlich?

Die Antwort ist einfach: Jeder Mensch ist gleich zu behandeln. Jeder Person soll der Zugang zur Gesellschaft möglich sein und erhalten bleiben. Und vor allem: Menschen mit Beeinträchtigungen haben die gleichen Rechte. Es ist wichtig, dass behinderte Menschen in die Gesellschaft integriert werden und die Möglichkeit haben, an sozialen Aktivitäten teilzunehmen und Zugang zu Bildungseinrichtungen und Arbeitsplätzen zu haben.

Wie kann man mehr Gleichberechtigung bewirken?

Die Gesellschaft häufiger und intensiver aufmerksam machen auf die verschiedenen Krankheiten, die hinter Beeinträchtigungen stecken. Die Betroffenen selbst sollten stark lösungsorientiert denken und handeln, sie sollten von sich aus versuchen, sich im Sinne der Teilhabe laufend zu integrieren. 

Für die Betroffenen dürfte es nicht einfach sein, den ersten Schritt zu machen.

So müssen sie bereit sein, teilweise auf Vorzüge zu verzichten und das auch so zu kommunizieren. Ein Beispiel: Auf der Post sollten sie nicht direkt den hindernisfreien Schalter anstreben, wenn sie mit einer Begleitperson unterwegs sind, sondern eine Nummer ziehen und warten, wie alle anderen auch.

Stichwort SOZIALE INTEGRATION

Stichwort «soziale Integration»: Wie können sich Menschen mit Behinderungen im Alltag einbringen, so dass sie das Umfeld besser versteht und akzeptiert?

Das Umfeld ist in der Regel stark mit sich selbst beschäftigt, weil die meisten viel zu tun haben, gestresst sind, keine Zeit haben. Und eben, sich Zeit für Personen mit Beeinträchtigungen zu nehmen tun nur sehr wenige. 

Das klingt sehr hart.

Ja, und das müssen Menschen mit Beeinträchtigungen zuerst einmal begreifen und akzeptieren. Danach können sie gezielt handeln. Sie sollten den anderen immer wieder kommunizieren, welche Hilfestellungen erwünscht sind. Oder wenn es die Situation zulässt, sollen sie erklären, worin die Herausforderung für sie eigentlich besteht. «Kann ich mich an Ihrem Arm festhalten, da es für mich schwierig ist, in schnellem Tempo die Strasse zu überqueren?» wäre ein konkretes Beispiel.

Was wären weitere Beispiele für diese erklärende Kommunikation?

Zum Beispiel: «Kannst du mir mit dieser Website helfen, denn wegen der vielen Werbung finde ich die gesuchten Angaben nicht.» Es ist einfach wichtig, intensive Kommunikation im Alltag zu betreiben, damit das Umfeld versteht, was genau für die betroffene Person aufgrund ihrer Einschränkung schwierig ist.

Wie kann man das Umfeld noch mehr sensibilisieren?

Betroffene können ein bis zwei Mal im Jahr eine Sensibilisierungsaktion durchführen. 

Was für eine Sensibilisierungsaktion, und wer nimmt sich im Alltag dafür Zeit?

Es finden jährlich Aktionen zum Tag des weissen Stocks statt, organisiert durch den Blindenverband, den Blindenbund u.ä. Die Betroffenen können hier mitmachen – oder aus eigener Initiative selbst etwas auf die Beine stellen, zum Beispiel in ihrem Wohnquartier. Selber aktiv zu werden ist sehr wichtig.

Stichwort ARBEITSMARKT

Ein heikler Bereich punkto Gleichberechtigung und Chancengleichheit ist der Arbeitsmarkt. Findet man mit einer Beeinträchtigung einen Job?

Für eine betroffene Person ist der Zugang zum Arbeitsmarkt sehr schwer. In der Arbeitswelt wird man nur noch auf Leistung getrimmt. Man muss immer mehr produzieren, denn immer die gleiche Leistung ist aus Sicht des Arbeitsgebers unrentabel. Da stossen selbst die «normalen» Arbeitnehmenden an ihre Grenzen. In der Privatwirtschaft sind nur noch die Besten gut genug. Eine Person mit Beeinträchtigung findet da meist keinen Zugang: Dass sie in der Privatwirtschaft einfach so eine Stelle findet, ist fast nicht möglich. 

Worauf muss also Inklusion am Arbeitsplatz abzielen?

Im beruflichen Bereich bezieht sich Inklusion darauf, sicherzustellen, dass alle Mitarbeitenden unabhängig von ihren individuellen Merkmalen und Hintergründen die gleichen Chancen, Rechte und Möglichkeiten haben, produktiv und erfolgreich zu sein.

Und was bedeutet das für die Arbeitgeber?

Die Arbeitgeber sollten sicherstellen, dass ihre Arbeitsumgebung frei von Diskriminierung ist. Dass alle Mitarbeiter die Unterstützung und Ressourcen erhalten, die sie benötigen, um ihr volles Potenzial auszuschöpfen.

Was wären also konkrete inklusive Massnahmen am Arbeitsplatz?

Dazu gehören barrierefreie Arbeitsplätze, angemessene Anpassungen für Menschen mit Behinderungen im Einzelfall, Diversity-Trainings und eine Kultur der Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt.

Ist das nicht etwas kompliziert?

Das hängt vom Willen der Arbeitgeber ab. Auf jeden Fall lohnt sich die Mühe: Inklusion am Arbeitsplatz fördert eine positive und eben auch produktive Atmosphäre, weil sie alle Mitarbeiter geschätzt und respektiert fühlen.

Aber wie oft finden Betroffene überhaupt Arbeit?

Sie können einen Job finden, und auch mit einer Seheinschränkung ist Arbeit möglich. Von uns, der Oberwalliser Gesprächsgruppe von Retina Suisse, haben alle im Arbeitsalter eine Anstellung im Sinne einer Erstanstellung – ausser diejenigen, die eine vollständige IV-Rente beziehen. 

Es scheint also doch genügend offene Firmen zu geben.

Wir sind auf offene, lösungsorientierte Firmen mit aufgeschlossenen Arbeitskolleg*innen angewiesen, und die gibt es. 

Wie sieht die Unterstützung durch die Arbeitskolleg*innen aus?

Grundsätzlich werden die arbeitsfähigen Mitglieder der Oberwalliser Gesprächsgruppe an ihrem jeweiligen Arbeitsplatz sehr gut unterstützt. Dank dem Willen der Arbeitgeber, ihre Möglichkeiten vollumfänglich zu nutzen, ist es sehr wohl machbar, Menschen mit Beeinträchtigungen anzustellen.

Wo liegen also für Betroffene die eigentlichen Job-Probleme?

Die Herausforderung ergibt sich vor allem bei der Suche nach einer neuen Arbeitsanstellung, selbst wenn es nur in Teilzeit ist. Wir leben heute in einer Leistungsgesellschaft, und auch wir Betroffene können Leistung und Qualität erbringen. Aber wir benötigen Anpassungen und, je nach Beeinträchtigung und Arbeitsgebiet, mehr Zeit. 

Stichwort AKTIVITÄTEN IN DER FREIZEIT

Auch bei den Freizeitaktivitäten liegen Freud und Leid oft nahe beieinander.

Viele Freizeitaktivitäten werden von gemeinnützigen Organisationen und Vereinen gefördert. So gibt es immer mehr hindernisfreie Angebote wie Musicalbesuche mit Audiodeskription oder Sportvereine für Menschen mit Sehbeeinträchtigung samt Unterstützung durch ehrenamtliche Begleitpersonen. Ausserdem ermöglicht es der IV-Assistenzbeitrag, mit angestellten Assistenzpersonen eine Begleitung zu haben, die entlöhnt werden und somit keinen «Goodwill» aufbringen müssen. Auf der anderen Seite gibt es doch noch einige Herausforderungen.

Welche Herausforderungen?

Es braucht Mut und ein unterstützendes Umfeld, um neue Sachen auszuprobieren. Als Herausforderung erweist sich oft die Anreise zu den Aktivitätsorten, da beispielsweise der hindernisfreie Sportverein in Bern und nicht in Brig ist. Früher hingegen gab es den Turnverein im Dorf, der Inklusion pflegte. Das führte auch gleich zum direkten Austausch mit den Ortsansässigen.

Es gibt vermutlich noch weitere Erschwernisse punkto Freizeitaktivitäten.

Viele der erwähnten Vereine und Organisationen kämpfen um freiwillige Helfer*innen. Auch fehlen oft die finanziellen Mittel, um Menschen mit Beeinträchtigungen den Zugang zu Freizeitaktivitäten zu ermöglichen.

Und wie sieht es zum Beispiel mit den beliebten Open-Air-Konzerten aus?

Das ist gerade die richtige Frage! Ein Mitglied unserer Oberwalliser Gesprächsgruppe besucht sehr gerne Open-Air-Konzerte, hat aber Retinitis Pigmentosa. Sein Gesichtsfeld ist also eingeschränkt – und er ist nachtblind. Und just Open-Air-Konzerte finden oft abends statt. Daher besitzt unser Mitglied eine gute Taschenlampe und ein Bestätigungsschreiben des Inselspitals in Bern, das der Betroffene abends auf eine Taschenlampe angewiesen ist. Letztes Jahr besuchte er das Openair Gampel. Weil die am Eingang kontrollierenden Personen meist sehr streng auf Gegenstände wie Taschenlampen, Insulinspritzen und so weiter reagieren, hatte das Mitglied ein paar Tage vor der Veranstaltung dem Organisator eine Mail geschrieben und schilderte sein Anliegen mit der Taschenlampe. Die Antwortet überraschte den Betroffenen negativ: Man teilte ihm einfach mit, dass Taschenlampen verboten seien.

Also blieb der Betroffene enttäuscht zu Hause?

Nein, er machte sich trotzdem auf den Weg zur Veranstaltung. Bei der Eingangskontrolle wurde seiner Taschenlampe erstaunlicherweise und zu seinem Glück keine Beachtung geschenkt. Er konnte sie also aufs Open-Air-Gelände nehmen, sich sicherer bewegen und die Konzerte geniessen.

Sind alle Open-Air-Veranstalter so streng?

Unser Mitglied musste bei anderen solchen Veranstaltungen die Taschenlampe abgeben. Ganz anders verlief es letztes Jahr beim Greenfield Festival. Der Betroffene hatte wieder eine Mail geschrieben und erhielt postwendend eine Antwort, die ihn positiv überraschte: Man teilte ihm mit, dass er selbstverständlich seine Taschenlampe aufs Gelände mitnehmen dürfte. Ausserdem holte den Betroffenen ein Mitarbeiter am Eingang ab und wollte ihn an den gewünschten Ort auf dem Konzertgelände führen. 

Ein vorbildliches Verhalten.

Ja, dabei wäre es in diesem Fall gar nicht nötig gewesen. Denn unser Mitglied war zusammen mit seiner Frau und Kollegen gekommen, die ihn gegebenenfalls unterstützt hätten.

Stichwort BARRIEFREIHEIT

Inklusion wird auch durch Barrierefreiheit möglich. Wie ist die Situation, gerade bei und in öffentlichen Bauten?

Barrierefreiheit heisst: Das Umfeld sollte physisch so zugänglich sein, dass Menschen mit unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnissen problemlos ins betreffende Gebäude oder an den jeweiligen Ort gelangen können. Aber selbst die Planung neuer Gebäude ist oftmals immer noch zu wenig weit gefasst, damit die Bauten komplett barrierefrei werden. Hier würde es Sinn machen, wenn man eine Person mit Beeinträchtigung bei der Vorplanung anhörte. Diese könnte sogar die Baukommission unterstützen. 

Aber gerade bei Neubauten existieren doch strenge Leitlinien.

Teilweise bestehen sicher Leitlinien. Lifte geben in Sprache das Stockwerk an, und viele Bahnhöfe sowie Flughäfen stellen Assistenzpersonen zur Verfügung für die Begleitung an diesen öffentlichen Orten. Aber es werden immer noch Gebäude und Strassen bzw. Strassenüberquerungen gebaut, die nicht hindernisfrei sind. Zum Teil sind sogar vor Schulhäusern nicht alle Eingänge rollstuhlgerecht, so dass die Betroffenen zeitraubende Umwege machen müssen.

Und Betroffene werden nicht angehört?

Das ist es ja eben! Dabei wäre genau hier ein perfekter Arbeitsort für Menschen mit einer Einschränkung. Denn sie wären die besten pragmatischen Berater*innen punkto baulicher barrierefreier Anforderungen.

Die heutigen Bauplaner sind doch sicher gebrieft, wie man sagt.

Wenn zum Beispiel der Umbau eines öffentlichen Gebäudes geplant ist, sind meist Planer dabei, die keinen Bezug zu den Einschränkungen bei beeinträchtigten Menschen haben. Solche Planer sehen logischerweise den ganzen Zusammenhang nicht so ausgeprägt wie Menschen, die selbst davon betroffen sind. 

Aber diese Planer können das Gebot der Barrierefreiheit nicht einfach ignorieren.

Natürlich nicht. Aber es kam auch schon vor, dass man zum Beispiel eine Toilette für Menschen mit einer Beeinträchtigung gebaut hat – und gleichzeitig vergass, die entsprechende Rampe zu planen, dank der die Toilette für Menschen mit körperlicher Einschränkung überhaupt erst zugänglich wird.

Stichwort HILFSMITTEL

Hilfsmittel fördern die Inklusion ebenfalls. Bei welchen hapert es?

Generell gilt: Die Bereitstellung von Technologien und Hilfsmitteln kann Menschen mit Behinderungen dabei unterstützen, sich in verschiedenen Lebensbereichen zu engagieren und aktiv zu sein. Aber ein wichtiges Beispiel für einen Mangelzustand ist schnell gefunden: Bei der Auswahl der Haushaltsgeräte wird es immer schwieriger, Firmen zu finden, die Spezialanfertigungen machen. Dies vor allem bei Kochherden oder Waschmaschinen: Sie sind noch heutzutage oft mit Tasten oder Drehknöpfen ausgestattet, und das in der Ära des Touch-Screens. Dennoch findet man am Ende die passenden Geräte, aber mit Mehraufwand. 

Also wenig barrierefreie Innovation bei Haushaltsgeräten?

Das bleibt sehr unterschiedlich. Das Gute ist, dass immer wieder neue Sachen erfunden werden. Aber bei einigen Funktionen, wie beim erwähnten Kochherd, der Waschmaschine oder auch Liften trifft man immer noch viel zu häufig die alten Apparaturen mit Knöpfen an, die eben das Gegenteil von barrierefrei sind 

Bei typisch digitalen Geräten hingegen ist das Niveau top, oder?

Natürlich. Ein gutes Beispiel dafür sind Assistenten-Apps wie Siri und Alexa, welche im Smartphone- und SmartHome-Bereich eine echte Hilfe für Menschen mit einer Beeinträchtigung darstellen. 

Was wäre ein Musterbeispiel?

Wenn man eine Sehbeeinträchtigung hat und die Fernbedienung der Klimaanlage oder dem Radio nicht sieht, kann man akustische Befehle den erwähnten virtuellen Assistenten erteilen. Diese bedienen dann das gewünschte Gerät für die betroffene Person.

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