Ein Stirnband, das lenkt

Forschende der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität haben ein Navigationssystem entwickelt, das mehrere Arten von Sensordaten in Echtzeit verarbeitet. Damit können sich sehbehinderte Menschen genauer und sicherer in ihrer Umgebung orientieren.

Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch

Bisherige Navigationssysteme, welche die Orientierungsfunktion der Augen ausüben, bieten bloss ein minimales visuelles Feedback. Das reicht für die Nutzer*innen nicht aus, um sich sicher und unabhängig in ihrer Umgebung zu bewegen.

Diese Einsicht hat ein Forschungsteam im amerikanischen Baltimore zu einer massiven Verbesserung animiert. Die Forschenden des Applied Physics Laboratory an der Johns Hopkins University haben im Verlaufe des Jahres 2024 das rudimentäre Feedback durch zusätzliche haptische, visuelle und auditive Sinneseindrücke ergänzt, um ein umfassenderes Navigationssystem zu schaffen.

Beim deutlich verbesserten Modell kommt künstliche Intelligenz (KI) im grossen Stil zum Einsatz. Sie bildet Umgebungen ab, verfolgt den Standort der nutzenden Person und kann diese so in Echtzeit leiten.

Die KI verarbeitet auch Daten von Tiefenbildsensoren sowie von den Rot-, Grün- und Blau-Kanälen, die in Bildsensoren zur Erfassung visueller Informationen dienen. So lassen sich sekundenschnell detaillierte und interpretierte Karten der Umgebung erstellen. Damit wird das Navigationssystem befähigt, nicht nur Hindernisse zu erkennen, sondern auch bestimmte Objekte und deren Eigenschaften zu identifizieren.

Die Umgebung interpretieren

Die Forschenden betonen in einem Bericht der Johns Hopkins University: Dank dieser Fähigkeit könnten die Nutzer*innen des Navigationssystems in Echtzeit Fragen zu bestimmten Objekten oder Merkmalen in ihrer Umgebung stellen und Antwort erhalten. Das mache die Navigation intuitiver und effektiver.

«Was dieses System besonders innovativ macht, ist seine Fähigkeit, die Interpretierbarkeit der Umgebung für die Benutzer erheblich zu verbessern», wird der leitende Forscher Nicolas Norena Acosta, ein Software-Ingenieur für Robotikforschung, zitiert.

Laut seinen Worten stützen sich herkömmliche Navigationssysteme für Sehbehinderte oft auf eine einfache sensorgestützte Kartierung: Diese unterscheidet nur zwischen «besetzten» und «unbesetzten» Räumen. Der neue interpretative Mapping-Ansatz bietet jedoch ein viel umfassenderes Verstehen der Umgebung und ermöglicht Interaktionen zwischen Mensch und Computer auf hohem Niveau.

Vibrationen, Sprachansagen, Geräusche

Die haptische Rückmeldung des KI-gelenkten Navigationssystems erfolgt über ein eigens entwickeltes Stirnband. Dieses vibriert an verschiedenen Stellen, um die Lage von Hindernissen oder den Weg anzuzeigen, welchem der oder die Nutzer*in folgen soll.

Wenn der Weg zum Beispiel nach rechts führt, vibriert die rechte Seite des Stirnbands. Das angeschlossene auditive Feedback verwendet Sprachansagen und räumliche Geräusche, um Hinweise und Warnungen über die Umgebung mitzuteilen.

Auch die kombinierten sensorischen Inputs für das System werden in ein visuelles Feedback umgesetzt, das die Fähigkeit der Benutzenden verbessert, Hindernisse wahrzunehmen und sich sicher zu bewegen. Das System bietet eine klare, vereinfachte Sicht auf die Umgebung, indem es von sich aus nur die wichtigsten Informationen hervorhebt; also solche, die man zur Vermeidung von Hindernissen und zur sicheren Fortbewegung tatsächlich benötigt.

«Die Herausforderung bestand darin, ein System zu entwickeln, das mehrere Arten von Sensordaten in Echtzeit synchronisieren und verarbeiten kann», sagt Software-Ingenieur Norena Acosta. Die genaue Integration des visuellen, haptischen und auditiven Feedbacks erfordere ausgeklügelte Algorithmen, eine robuste Rechenleistung sowie fortschrittliche KI-Techniken.

Verbesserung der Lebensqualität

Die Wissenschaftler*innen erwarten, dass dieses System die Fähigkeiten kommerzieller Netzhautprothesen verbessern kann. Eine robuste, intuitive Navigationshilfe wie diese habe das Potenzial, die Unabhängigkeit und Mobilität seiner Nutzenden erheblich zu steigern.

«Die potenziellen Auswirkungen dieser Arbeit auf die Patient*innen sind erheblich», betont Seth Billings, ein anderer leitender Forscher des Projekts. Das System könnte zu einer grösseren sozialen Eingliederung und Teilnahme Betroffener an täglichen Aktivitäten führen – und deren Lebensqualität merklich verbessern.

Quellen:
Johns Hopkins University/Applied Physics Laboratory
biermann-medizin.de vom 15.07.2024

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