Trotz Sehbehinderung ein gutes Leben führen – wie geht das? Die Dürmüllers aus St. Gallen berichten offen über ihr alltägliches Zusammenleben mit dem Vater, der eine schwere degenerative Augenerkrankung hat. Im dritten Teil dieser Mini-Serie wird geschildert, wie sich die Familie an Vater Hampis weissen Stock gewöhnt.
Jean Seiler, jean.seiler@retina.ch
Der Einblick, den die Leserinnen und Leser bisher in die Familie erhalten durften, zeigt: Eine gravierende Sehbehinderung wie Retinitis pigmentosa (RP) stellt so einige Anforderungen an alle Familienmitglieder. Es gibt immer wieder Situationen, die einem Hochseilakt gleichen und geschicktes Ausbalancieren erfordern. Da ist manchmal Kreativität gefragt.
Nadia Dürmüller erzählt: «Am meisten interessiert uns die Frage, wie sieht denn unser Papi? Wir haben selbst eine Simulationsbrille angefertigt. Dazu nahmen wir zuerst ein Bild an der Wand als Referenz. Aus einer gewissen Distanz haben wir verglichen. Hampi ist hin gestanden und hat gesagt, was er sieht. Das, was er nicht sah, haben wir auf der Brille abgeklebt.»
«Dann stand er hin und beschrieb, was er noch sieht. Wir haben so lange abgeklebt, bis Nadia nur noch den gleichen Ausschnitt wie Hampi sah. Interessanterweise ist Nadia aufgefallen, dass Hampi schon ganz vergessen hat, was man auf die Seiten hin alles sieht. Mit dieser Brille können wir den Kindern aufzeigen, was ihr Papi noch sieht. Auch wenn Besuch da ist, oder bei Kollegen ist dies ein gutes Hilfsmittel, um einen Eindruck zu erhalten.»
Beide Bilder auch am Arbeitsplatz
Nun erzählt Familienvater Hanspeter bzw. Hampi: «Auf der Arbeit, als ich noch am Schalter gearbeitet hatte, habe ich zwei Bilder hingestellt, ein vollständig normales Bild und das Zweite mit meinem ‘Röhren-Blickfeld’. So musste ich meistens nur noch sagen: ‘Sehen sie, so sehe ich’. Dann war es klar und hat Zeit eingespart.»
Ehefrau Nadia präzisiert: «Das war ja mutig, so offensiv zu informieren!»
Hampi erklärt weiter: «Je transparenter eine Person mit ihrer Einschränkung umgeht, desto einfacher wird die Situation. Die Leute fragen nicht so, als ob sie eine effektive Antwort erhalten möchten. Daher helfen diese Bilder. Die Reaktion ohne diese Bilder ist meistens: ‘Was ist denn das für einer? Die Behinderung sieht man ihm nicht an’. Trotzdem schauen dich die Leute so an, wie wenn du ‘nicht ganz’ wärst.»
«Wenn ich dann am Schalter sagte: ‘Wissen sie, ich sehe nicht gut, ich habe ein eingeschränktes Gesichtsfeld’, dann war die Reaktion: ‘Ja gut, kann ich jetzt mein Material haben’. In der Tat wollen die Leute es dann doch nicht wissen. Aber ich war dann wenigstens nicht ein komischer Kerl. Daher bin ich auf die Idee mit den Bildern gekommen, um von vornherein Klarheit zu schaffen.»
Als «Behinderter» eingestuft
Frage an Hampi: Was macht es denn mit einem, als «Behinderter» eingestuft zu werden?
Hampi antwortet: «Es ist mir mittlerweile egal, wenn ich als Behinderter eingestuft werde, aber dass ich nicht ganz hundert sein könnte, das macht mir Mühe und tut weh! Meine Berufserfahrung steht in keinem Zusammenhang mit meiner Sehbehinderung. Dies in Zusammenhang zu bringen, geht mir an die Psyche. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man als nicht ganz hundert betrachtet wird. Kinder haben es da einfacher, sie nehmen Situationen von Beeinträchtigung hin, wie es eben ist. Sie stellen solche Fragen gar nicht. Hier sind Kinder auf natürliche Weise im Vorteil.»
«Das zeigte sich kürzlich an der Bushaltestelle: Es kam eine Familie mit Kindern und ein Kind fragte, Mami, warum hat der Mann einen weissen Stock? Die Mutter reagierte ganz verklemmt und mahnte, still zu sein: ‘Das fragt man nicht’. Da habe ich es dem Kind einfach kurz erklärt und das genügte ihm sogleich. Die Mutter kam dann auf mich zu und hatte Fragen.»
Frage an die ganze Familie: Apropos weisser Stock, wie war es für die Kinder, als ihr Papi auf einmal damit daherkam?
Hampis kleiner Sohn Jonas antwortet, dass es für ihn sehr komisch gewesen sei. Früher beim Wandern habe er immer Stecken gesucht und mitgenommen. «Papi wollte aber zu Hause diese Stecken nicht. So! Und jetzt hat der Papi auf einmal auch einen Stecken. Ich darf jetzt auch nicht mehr so vor ihm gehen, weil er vorneweg Platz für seinen Stock braucht. Andererseits ist es cool, dass er nicht mehr jede Faxe sieht.»
Sohn Samuel führt aus, dass es für ihn überraschend war, er habe sogar etwas Scham verspürt. Es brauche immer etwas räumlichen Abstand zum Papi, damit er genügend Spielraum mit dem Stock habe. Die Kinder könnten nicht mehr so umherhüpfen, sondern müssten so etwas wie kontrolliert gehen, um den Papi nicht zu behindern.
Der Stock ist ein klares Signal
Als beispielsweise in der Schule ein Elternanlass war, blieb der Stock in der Tasche. Denn dort wäre es den Kindern irgendwie peinlich gewesen. Bedingung war, dass Papi diskret geführt wurde. Ansonsten hat sich die Familie an die Stocksituation gewöhnt.
Ehefrau Nadia meint: «Ohne Stock erhält die Umwelt eher den Eindruck, als wäre Hampi betrunken oder er sei nicht ganz… So ist es der Familie lieber, wenn der Stock zum Einsatz kommt.»
Mittlerweile fragt Hampi seine Kinder nicht mehr, denn der Stock ist Normalität. Manchmal ist es für die Kinder sogar lustig: Papi gehe mit dem Stock voraus und teile wie Moses das rote Meer, die Leute würden zur Seite gehen, und so sei in der Menschenmenge ein rasches Vorwärtskommen möglich. Es sei sehr beeindruckend, dass wirklich alle, ob alt oder jung, dem weissen Stock ausweichen würden.
Interessant ist es auch im Wald. Laut den Dürmüllers nehmen die Hundebesitzer den Hund sofort an die Leine, wenn sie den weissen Stock erblicken. Heute geht Hampi nicht mehr ohne Stock aus dem Haus. Dieses Thema hat sich in der ganzen Familie integriert.
Frage an Hampi: Was ist denn das Geheimnis für so erfolgreiche Balanceakte?
Hampi antwortet: «Da helfen natürlich gute fundierte Informationen. Einerseits habe ich im Internet recherchiert, wo ich sehr viel erfahren habe. Andererseits war ich auch auf der Homepage von Retina Suisse, wo ich viele interessante Details erfuhr. Zum Beispiel, dass auch weibliche Personen von Retinitis pigmentosa betroffen sind. Bei uns zu Hause war nämlich die Ansicht vorherrschend, RP sei eine Bubenkrankheit.
«Die genetische Übertragung ist für uns nicht so eindeutig. Sollte es so sein, dass ich die Krankheit nicht auf meine Buben übertragen habe, sondern die Möglichkeit für eine Tochter grösser gewesen wäre, dann beruhigt dies uns. Wir lassen die Buben – Stand heute – nicht genetisch untersuchen. Es kann jedoch sein, dass sie dann selbst eine Abklärung vornehmen, wenn sie selber in der Phase der Familienplanung sein werden.»
Mitglied von Retina Suisse geworden
Hampi hat auch schon Vorträge von Retina Suisse besucht. Er findet solche Angebote sehr wichtig und interessant.
Ehefrau Nadia sagt: «Wenn so viele Forschende an genetischen Augenerkrankungen arbeiten würden, wie das beim Coronavirus der Fall war, dann wären wir wahrscheinlich viel weiter. Aber leider ist RP eine seltene Krankheit und somit nicht so prioritär.»
Hampi meint: «Die Infos von Seiten des Augenarztes haben mir lange Zeit genügt, weil die Auswirkungen von RP schleichend zunehmen und man sich lange nicht wirklich betroffen fühlt. Aber schliesslich gingen wir dann zu Retina Suisse in die Beratung, und ich wurde Mitglied.»
Es hat Hampi und Nadia sehr beeindruckt, wie Stephan Hüsler von Retina Suisse oder auch Virgil Desax von der Sehberatung «obvita» sich als blinde Person bewegen.
Hampi: «Solche Beispiele machen Mut! Oder aber es ist deprimierend. Wenn ich zum Beispiel beobachte, wie Stephan Hüsler per Audiohilfsmittel arbeitet: Wenn ich mitbekomme, in welcher Geschwindigkeit sein Reader abläuft, frage ich mich schon, wie dies gehen soll. Jedenfalls sind solche Menschen Beispiele dafür, dass das Leben trotzdem stattfindet.»
Eine beeindruckende Leistung der Dürmüllers
Es war interessant, bei der Familie Dürmüller hineinzuschauen. Von aussen stellt man sich vor, dass das Zusammenleben schwierig sein könnte. Der Umgang in dieser Familie ist aber so natürlich respekt- und rücksichtsvoll, dass das Leben eben stattfinden kann.
Die Familie geht jedes Jahr in die Ferien, «klar, es sind einfache Campingferien», sagt Hampi. «Diese haben jedoch auch ihre Vorteile und können sehr, sehr schön sein. Im Winter ist es umständehalber schwieriger, weil das Skifahren dann voll auf den Schultern von Nadia ruht. Das sind dann wieder Themen, die andere Familien teilweise auch haben, jedoch anders.»
Fazit: Es ist beeindruckend, was die Familie Dürmüller leistet. Vor allem von Seiten von Nadia als Partnerin und Mutter. Sie fängt vieles auf, das Hampi mit einer fortgeschrittenen Sehbehinderung nicht mehr leisten kann. Die Umstände in diesem Zusammenhang haben die Familie jedoch eng zusammengeschweisst.
Hinweis auf ein (Hör-)Buch: Ein Teenager hat das Usher-Syndrom
Wie gehen junge Menschen im Lebensalltag mit einer Sehbehinderung um? Diese Problematik beschreibt die deutsche Autorin Karen-Susan Fessel in ihrem 2022 erschienenen Buch «Blindfisch». Darin schildert sie das Schicksal des16-jährigen Lon: Er ist am seltenen Usher-Syndrom erkrankt, das die Augen ebenso angreift wie das Innenohr.
Dass Lon schlecht hört, ist nichts Neues, aber das sich zunehmend verengende Gesichtsfeld wird zu einer echten Herausforderung. Denn Lon erzählt niemandem davon, selbst der Mutter oder dem Arzt nicht. Auch Nelly und Oscar, Lons Freunde, ahnen nichts. Auf dem Weg in die Dunkelheit sehnt sich Lon nur nach einem: Liebe. Doch zuerst muss Lon lernen, sich selbst zu lieben.
Die dreistündige Hörbuch-Version von «Blindfisch» ist bei der SBS verfügbar mit der Signatur «DS 58467» (SBS – Schweizerische Bibliothek für blinde, seh- und lesebehinderte Menschen)