Die Augen sind das «Frühwarnsystem» des Körpers

Viele Krankheiten zeigen sich schon früh im Auge. So kann der Routinebesuch beim Augenarzt unter Umständen sogar das Leben retten. Um welche Krankheiten handelt es sich? Ein Überblick.

Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse

Es gibt eine einfache Faustregel: Spätestens ab dem Alter von 50 Jahren sollte man verschiedene ärztliche Kontrollen regelmässig durchführen lassen. Der Zweck ist, eine mögliche Erkrankung zu verhindern. Oder man erkennt sie im Frühstadium und kann so die Heilungschancen deutlich steigern.

Das gilt auch für die Augen. Denn gerade bei ernsten Augenerkrankungen stellen sich deutliche Symptome oft relativ spät ein. Regelmässige Untersuchungen können zum Beispiel verhindern, dass häufige Erkrankungen wie grüner und grauer Star oder die Altersbedingte Makuladegeneration massive Schäden anrichten.

Auf der anderen Seite zeigen sich nicht-ophthalmologische, ernste Krankheiten im Auge schon sehr früh. Denn die Augen gehören zu den sensibelsten Organen und reagieren schnell auf zahlreiche Störungen im Körper. So kann ein Routinebesuch beim Augenarzt zu frühzeitigen Zufallsbefunden führen und unter Umständen sogar das Leben retten. 

Die Augen sind laut dem Berufsverband der Augenärzte Deutschlands ein «Frühwarnsystem für schwere Krankheiten». Sie ermöglichen den ÄrztInnen einen Blick in die PatientInnen, und zwar sozusagen auch in ihr Gehirn, das Herz oder das Kreislauf-, Nerven- und Immunsystem. Mit dem Augenspiegel, dem Ophthalmoskop, kann der Arzt oder die Ärztin Netzhaut und Blutgefässe genau untersuchen und rasch kleinste krankheitsbedingte Veränderungen feststellen.

Folgende Erkrankungen lassen sich sehr früh von den Augen ablesen, so dass mögliche Therapien gute Chancen auf Erfolg haben: 

Diabetes

Bluthochdruck

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Schlaganfall

Fehlfunktion der Schilddrüse

Multiple Sklerose und Rheuma

Alzheimer

einige infektiöse Erkrankungen

einige Karzinome

Biologisches Alter und Sterberisiko  

Diabetes

Die Zuckerkrankheit gilt wie die Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Volkskrankheit. Die International Diabetes Federation (IDF) schätzte die weltweite Anzahl der Menschen mit Diabetes im Jahr 2021 auf 537 Millionen und prognostiziert bis 2045 einen Anstieg auf 783 Millionen. 

Auch Diabetes gehört zu den Pathologien, bei denen sich deutliche Symptome erst spät einstellen. Daher erfahren PatientInnen häufig zuerst bei einer Augenkontrolle, dass sie DiabetikerInnen sind. Anzeichen dafür sind eine geschwollene Augenlinse, poröse, erweiterte oder verengte Blutgefässe, Gefässneubildungen sowie winzige Blutungen in der Retina. 

Schwankungen der Sehschärfe innerhalb eines Tages können ebenfalls ein Zeichen für einen unerkannten Diabetes mellitus sein. Die Ursache ist der steigende Blutzuckerspiegel, der via Wassereinlagerungen die Form der Augenlinse vorübergehend verändert. Nach dem Zufallsbefund sollte sofort mit einer Diabetes-Behandlung begonnen werden. Denn die Zuckerkrankheit kann auch eine diabetische Retinopathie oder ein diabetisches Makulaödem auslösen und zu einer schweren Schädigung der Netzhaut führen.

Je früher eine Schädigung der Retina erkannt wird, desto eher kann eine Erblindung verhindert werden. In westlichen Ländern ist die diabetische Retinopathie sogar die Hauptursache für Blindheit.  

Bluthochdruck

Nach allgemeinen Schätzungen hat ein Viertel der Weltbevölkerung einen zu hohen Blutdruck (Hypertonie). Bis 2025 ist mit einem Anstieg auf 29 Prozent zu rechnen, so dass rund 1,5 Milliarden Menschen betroffen wären. 

Bei Menschen mit unerkanntem Bluthochdruck sind die Blutgefässe in der Netzhaut verändert. Jedoch spüren sie zunächst keine Beschwerden am Auge oder anderswo. Bei einer Untersuchung des Augenhintergrundes zeigen sich dann verengte und gestreckte Blutgefässe.  Auch sind winzige Blutungen und Schwellungen zu sehen.

Gelegentlich erscheinen die Gefässe im Auge gewunden wie Krampfadern. Manchmal kann zudem die Wurzel des Sehnervs geschwollen sein.   

Herz-Kreislauf-Erkrankungen

Krankheiten des Herzens und der Herzkranzgefässe sind weltweit die häufigste Todesursache. Ausserdem gehören sie zu den häufigsten Hospitalisierungsgründen in Europa. Als Hauptrisikofaktoren gelten Bluthochdruck und ein zu hoher Cholesterinspiegel. 

Wenn AugenärztInnen frühe Anzeichen für Bluthochdruck erkennen können, dann auch solche für Herz- und Kreislauferkrankungen. Dank modernster Technologien stellen sie Herzerkrankungen sogar früher fest als je zuvor und tragen vermehrt dazu bei, Todesfälle aufgrund von Herzinfarkten oder Schlaganfällen zu verhindern.

Typisch für eine Herzerkrankung ist ein verminderter Blutfluss. Dieser kann sich sehr früh in der Netzhaut zeigen, die von der retinalen Zentralarterie versorgt wird. Wenn nun die Blutzufuhr zur Retina verringert ist, beginnen Netzhautzellen abzusterben.

Eine degenerierende Retinazelle hinterlässt eine Markierung auf der Netzhaut, die sich mit einer optischen Kohärenztomographie (OCT) sichtbar machen lässt. Durch das Zählen dieser Markierungen können AugenärztInnen feststellen, ob eine Person ein erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hat.

Schlaganfall

Die sehr feinen Arterien, welche die Netzhaut und den Sehnerv versorgen, können auch durch einen weiteren Faktor beeinträchtigt sein. Durch den Alterungsprozess oder aufgrund anderer Risikofaktoren wie zu viel Cholesterin können sich generell die Arterien im Körper verengen, verhärten und durch Ablagerungen, der so genannten Plaque, verstopft werden.

Diesen Vorgang nennt man Arteriosklerose oder auch Arterienverkalkung. Sie kann die Blutgefässe des Herzens, des Gehirns und des gesamten Körpers betreffen.  Plaque bildet sich gerne beispielsweise in der Halsschlagader. Dieses grosse Blutgefäss zweigt von der herznahen Aorta ab und versorgt das Gehirn und die Augen mit Blut.

Nun können sich kleine Stücke von der Halsschlagader-Plaque lösen – und wenn diese Fragmente das Gehirn erreichen, verursachen sie oft einen Schlaganfall (Ictus).  Bevor sie ins Gehirn gelangen, können die Plaque-Teile vielfach bis zu den Arterien des Auges vordringen. Diese Teile erkennen die Augenärzte und -ärztinnen bei einer Untersuchung mit erweiterter Pupille recht gut. Haben sie Plaque-Ablagerungen entdeckt, werden sie die betroffene Person sofort zum Hausarzt oder sogar gleich zu einer bildgebenden Untersuchung schicken. 

Auch plötzlich einsetzende, vorübergehende Sehstörungen auf einem Auge können ein Alarmsignal sein. Selbst dann, wenn diese Symptome nach wenigen Minuten wieder verschwinden: Sie können nämlich einen Mini-Schlaganfall, im Fachjargon transitorische ischämische Attacke genannt, ankündigen. Die Patientin oder der Patient sollte sich dann unbedingt näher untersuchen lassen. Sonst droht ein weiterer, dann meist schwerer Schlaganfall.

Fehlfunktion der Schilddrüse

Eine Über- oder Unterfunktion der Schilddrüse zeigt ebenfalls schmerzlose Symptome am Auge. Oft entzündet sich leicht das Gewebe im hinteren Teil der Augenhöhle, so dass der Augapfel stärker hervortritt.

Daher zeigt sich die Lederhaut – das Weisse des Auges – auch oberhalb der Iris bzw. unterhalb des Oberlides, was normalerweise nicht der Fall ist.  Eine Fehlfunktion der Schilddrüse lässt sich somit häufig durch den blossen Anblick der Augen erkennen.

Betroffen sind tendenziell etwas mehr Frauen im dritten oder vierten Lebensabschnitt. 

Multiple Sklerose und Rheuma

Verschiedene autoimmune Erkrankungen rufen Augenbeschwerden hervor. So können tränende, brennende und entzündete Augen Vorboten oder Begleiterscheinungen rheumatischer Erkrankungen sein, und multiple Sklerose (MS) beginnt oft mit einer Entzündung des Sehnervs.  

MS ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Das körpereigene Immunsystem greift die isolierenden Schichten der Nervenfasern an. Auch hier wird die Diagnose häufig beim Besuch einer augenärztlichen Praxis gestellt. Denn der erste Krankheitsschub beginnt oft mit einer Entzündung des Sehnervs, der Teil des Gehirns ist.

Die Folgen sind deutliche Sehstörungen: Man sieht unscharf und kann nicht mehr lesen.  Ausserdem erscheinen die Farben blass, die Kontraste sind verschwommen und die Augenbewegungen schmerzen. Manchmal ist auch die Pupillenreaktion verändert. Gelegentlich treten Schmerzen auf, wenn man leicht auf den Augapfel drückt. Bei Verdacht auf MS stehen eine Magnetresonanztomographie und die Überweisung an den Neurologen an.  

Bei den rheumatischen Erkrankungen wiederum kann zum Beispiel die Riesenzellarteriitis, eine schwere Form der autoimmunen Gefässentzündung, sogar zu Augenschäden führen. Ein wichtiger Hinweis sind verhärtete, geschlängelte Arterien an der Schläfe, die bei leichtem Druck schmerzen. Durch diese entzündeten Blutgefässe kann der Sehnerv eine Art Schlaganfall erleiden: Dies führt zum Verlust des Sehvermögens. Die akute Riesenzellarteriitis muss zügig mit Kortison behandelt werden. 

Rheuma der Gelenke und Wirbelsäule schliesslich manifestiert sich oft als erstes in Form einer Entzündung der Iris. In diesem Fall kann direkt der Augenarzt dafür sorgen, dass rasch eine medikamentöse und physiotherapeutische Behandlung beginnt und eine Gelenkversteifung verhindert wird.

Alzheimer

Die Augen sind über Retina und Sehnerv direkt mit dem Gehirn verbunden. Deshalb versuchen Wissenschaftler, frühe Symptome für neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson und Alzheimer am Auge zu erforschen. Bisher konnten sie beispielsweise scheinbar banale Erscheinungen wie verminderten Tränenfluss, reduzierten Lidschlag und entzündete Augenlider als frühe, wenn auch sehr unspezifische Symptome von Parkinson identifizieren.

Bei der Alzheimer-Krankheit wiederum kommt es zu Ablagerungen zweier Proteine im Gehirn: Beta-Amyloid und Tau (auch Alzheimer-Plaques genannt). Durch diese Proteinablagerungen werden die Nervenzellen massiv gestört und die Funktionen des Gehirns immer stärker beeinträchtigt. 

Nun haben Forschende bei Alzheimer-PatientInnen festgestellt, dass sich Beta-Amyloid-Eiweisse auf der Netzhaut und in der Augenlinse ablagern. Dies lange bevor man die typischen Alzheimer-Plaques im Gehirn finden kann. Daher wird an der Entwicklung von schnellen, vergleichsweise billigen und nicht invasiven bildgebenden Verfahren gearbeitet.  

Gemäss neusten wissenschaftlichen Studien lässt sich ein erhöhtes genetisches Risiko für Alzheimer an den Pupillenbewegungen erkennen – lange vor Eintritt erster Symptome. Denn das Gehirn von Alzheimer-Betroffenen weist schon sehr früh Veränderungen auf, ohne dass sich neurologische Anzeichen manifestieren – ausser bei den Bewegungen der Pupille. Deren Bewegungen werden von einem Neuronencluster im Hirnstamm gesteuert, der für die kognitiven Funktionen zuständig ist. 

Solche ophthalmologischen Erkenntnisse eröffnen für die Zukunft neue Möglichkeiten der Früherkennung von Alzheimer. Betroffene können sich frühzeitig in Behandlung begeben und dadurch wertvolle Zeit gewinnen.  

Einige infektiöse Erkrankungen

Gelegentlich kommt es vor, dass sich auch infektiöse Erkrankungen zuerst am Auge manifestieren. Zum Beispiel kann die durch Zecken übertragbare bakterielle Borreliose als Entzündung an jedem Teil des Auges sichtbar werden: an der Bindehaut, Hornhaut oder am Lid. 

Ebenso löst eine Tuberkulose gelegentlich eine Uveitis aus, also eine Entzündung an der Gefässhaut im Augeninneren. In solchen Fällen bemerken die Betroffenen eine starke Rötung des Auges, aber vor allem eine Sehverschlechterung. Auch eine Syphilis kann auf die Augen übergreifen und sich ähnlich wie eine Tuberkulose bemerkbar machen.  

In all diesen Fällen gilt: Laboruntersuchungen und die Überweisung an den Spezialisten schaffen Klarheit, ob eine solche Infektion tatsächlich vorliegt. Dann sollte die zugrundeliegende Infektionskrankheit zügig behandelt werden.

Einige Karzinome

Darunter ist zum Beispiel das Lymphom, also Lymphknotenkrebs. Dieser wird meistens bei Routineuntersuchungen entdeckt: auf der Innenseite der Augenlider oder der Lederhaut, dem weissen Teil des Augapfels, und zwar in Form von erhöhten lachsfarbenen Flecken.

Auch andere Krebsarten wie das Melanom (schwarzer Hautkrebs) zeigen sich mit einer gewissen Regelmässigkeit in den Augen oder an den Lidern.  

Biologisches Alter und Sterberisiko

Gemäss einer Studie der University of Melbourne kann die Netzhaut Aufschluss über das biologische Alter geben. Bisher bestimmten die ÄrztInnen mittels Blutproben oder Biopsien von Blutgefässen besagtes Alter. Doch schon bald könnte ein Routine-Blick in die Augen reichen. Möglich macht dies ein sogenannter Deep-Learning-Algorithmus für ganz normale Computer.

Das Programm ermittelt anhand von verschiedenen Netzhautbildern einer Testperson, die über einen bestimmten Zeitraum hinweg aufgenommen wurden und spezifische kleine Veränderungen aufweisen, die «retinale Alterslücke». Diese gibt den Unterschied zwischen dem tatsächlichen Alter einer Person und ihrem biologischen Alter an. Das Verfahren hat bisher eine relativ hohe Treffsicherheit in der Bestimmung des biologischen Alters gezeigt.

Weiter wollen die Forschenden mit der Alterslücken-Methode auch das krankheitsbedingte Sterberisiko ermitteln. Um dies zu untersuchen, haben sie Mortalitätsdaten aus der britischen UK Biobank analysiert (einer Langzeitstudie, welche die Entstehung von Krankheiten untersucht). Der Vergleich des biologischen Alters mit Sterblichkeitsdaten bestimmter Testpersonen scheint bisher zu bestätigen, dass sich solide Aussagen zum Sterberisiko machen lassen.

So hatten offenbar jene Probanden, deren biologisches Alter ein Jahr über ihrem tatsächlichen lag, ein zwei Prozent erhöhtes Sterberisiko. Und Personen mit einem biologischen Alter von drei bis zehn Jahren über dem tatsächlichen Alter hatten sogar ein 50 bis 65 Prozent höheres Risiko, früh zu sterben.

Quellen:

American Academy of Ophthalmology

Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft

MT-Portal

Berufsverband der Augenärzte Deutschlands

InFranken und Welt

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