«Ich möchte die vier Pfeiler von Retina Suisse stärken und eine KI-Strategie entwickeln»

Früher war er Pilot für Businessflüge und führte auch Rettungsaktionen in Afrika durch. Nun arbeitet der sehbehinderte Genfer Laurent Delétraz für die Fluglotsengesellschaft Skyguide. Im April 2025 ist er zum siebten Präsidenten von Retina Suisse gewählt worden, der nationalen Vereinigung von Menschen mit einer Erkrankung des Augenhintergrundes. Im Gespräch erzählt der 55-jährige Delétraz von seinem Leben, seiner Krankheit – und seinen Plänen für Retina Suisse.

Interview von Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch (aufgezeichnet Ende Mai 2025 in Lausanne)

Herr Delétraz, Sie waren Pilot ….

Laurent Delétraz: … und jetzt wollen Sie sicher wissen, ob ich mir damit einen Bubentraum erfüllt habe (lacht).

Ja genau, erzählen Sie!

Natürlich war’s mein Bubentraum. Schon mit sechzehn Jahren habe ich die ersten Kurse für die Ausbildung zum Sportflugzeugpiloten besucht. Mit siebzehn bin ich dann das erste Mal allein geflogen, also noch bevor ich überhaupt den Führerschein fürs Auto machen konnte.

Das ist recht ungewöhnlich.

Nun ja, das ist in meinem Leben wohl so (lacht wieder). Nach der Matura habe ich ein Informatikstudium absolviert, dann die reguläre Ausbildung zum Berufspiloten gemacht. 1992 begann ich als Co-Pilot zu arbeiten. Ich flog elf Jahre lang im Auftrag der Fluggesellschaft Aeroleasing, die auf Business-Charterflüge spezialisiert war. Ich steuerte also Flugzeuge für Geschäftsleute, quer durch ganz Europa. Im Laufe der Jahre stieg ich bis zum Rang eines Kapitäns auf.

Auch das ist ungewöhnlich, diese Spezialisierung.

Kann man so sehen. Aber ich habe auch Rettungsflüge durchgeführt. Zum Beispiel habe ich Schweizerinnen und Schweizer, die in Ägypten oder auch in Schwarzafrika verunfallt oder erkrankt waren, notfallmässig in die Heimat zurückgeflogen.

Doch mit der Zeit hat die Kraft ihrer Augen nachgelassen.

Als Pilot müssen Sie jährlich einen strengen medizinischen Check bestehen, und auch die Augen werden gründlich kontrolliert. Alles lief bestens, bis ich im Jahr 2003, da war ich gerade 33, plötzlich den Eindruck hatte, etwas weniger gut zu sehen. Das heisst, ich sah auf Distanz ein bisschen verschwommen. Da sagte man mir: Leg dir eine Brille zu, und das Problem ist gelöst.

Das Problem blieb aber.

Aufgrund meiner Tätigkeit wurde ich natürlich nicht zum Optiker geschickt, sondern gleich zum Augenarzt. Der sagte mir klipp und klar, dass eine Brille nichts helfen würde. Er schickte mich ins Lausanner Augenspital Jules-Gonin zum renommierten Professor Francis Munier. Dieser veranlasste einen Gentest, und konnte so erst die Diagnose überhaupt stellen: Ich hatte eine Variante des Morbus Stargardt.

Wie gut ist um Ihre Sehkraft aktuell?

Ich komme gut zurecht. Aber das hängt stark von den Lichtverhältnissen ab, denn Morbus Stargardt bewirkt, dass ich wie durch Nebel sehe. Meine Sehschärfe beträgt 20 Prozent auf dem linken Auge, auf dem rechten ist sie fast null.

Können Sie noch Texte lesen?

Mit allem, was schwarz auf weiss gedruckt ist, wird es ziemlich schwierig. Jedoch erkenne ich noch die wichtigsten Elemente auf einer Fotografie. Und auf dem iPhone kann ich gut lesen, weil sich die Kontraste individuell einstellen lassen und ausserdem die Lupenfunktion vorhanden ist.

Die Diagnose vor 22 Jahren war vermutlich ein Schock für Sie als erfolgreichen Piloten.

Ein ziemlicher Schock. Vor allem für meine Familie, für mich natürlich auch, aber irgendwie anders. Der Schreck bestand für mich darin, dass ich als aufstrebender Pilot bis dahin mit der Einstellung gelebt hatte, alles regeln zu können. Und plötzlich liess sich ein Problem nicht einfach so lösen.

Wie ging es weiter nach der Diagnose?

Mir wurde sofort klar, dass mit der Fliegerei Schluss war. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als ich alle Kosten für Ausbildung, Familiengründung und Hauserwerb amortisiert hatte und ein gutes Leben zu führen begann. Das war hart. Gleichzeitig habe ich auch gedacht: Das musst du jetzt einfach akzeptieren, das ist die Realität. Ich brachte dieses hohe Mass an geistiger Disziplin auf und reagierte recht schnell auf die neue Situation.

Wie reagierten Sie, ganz konkret?

Ich fragte mich: Welche Arbeiten kann ein augenkranker Pilot mit seinen erworbenen Skills und mit einem Informatikstudium machen? Ich begann sofort zu suchen und wurde auch bald fündig in einem verwandten Bereich. Nämlich bei der Fluglotsengesellschaft Skyguide in Genf-Cointrin: Man suchte dort gerade mehrere Informatiker mit Hochschulstudium, also bewarb ich mich.

Und prompt stellte man Sie ein.

Ja – aber nicht als Informatiker! Beim Bewerbungsgespräch eröffnete man mir, meine Informatikstudium läge schon weit zurück, und ich hätte auch nie als Informatiker gearbeitet, also käme ich dafür nicht in Frage. Aber man würde einen Analysten suchen, der sich in Pilotenfragen auskennte, so wie ich. Und sie boten mir justament diese Stelle an.

Sie sind also Fluglotse geworden?

Nicht direkt. In den ersten zehn Jahren bei Skyguide habe ich im sogenannten Ablaufbereich gearbeitet. Da geht es um die Betreuung von Flugrouten. Ich habe mich um die Routen zwischen Genf und Zürich gekümmert, genauer gesagt um die Ankünfte und ihre Koordinierung, später zudem um die Navigierung. Ich bin nämlich auch ein Fachmann in Sachen Satellitennavigation und habe mit der Zeit die Leitung des entsprechenden Teams für die Route Genf-Zürich übernommen. Weiter sind mir Aufgaben übertragen worden, welche die Erarbeitung verschiedener Flugrouten-Strategien betreffen. In diesem Bereich kann ich meine analytischen Skills voll ausleben. Das alles ist auch deswegen möglich gewesen, weil meine Augenerkrankung sehr langsam voranschritt, sprich ich noch lange relativ gut sehen konnte.


«Ich wurde bald nach der Diagnose Mitglied von Retina Suisse, um mich im Austausch mit anderen Betroffenen meiner Erkrankung zu stellen.»


Wie haben eigentlich die Arbeitskollegen auf Ihre Erkrankung und berufliche Neuorientierung reagiert?

Wirklich sehr gut, sehr solidarisch. Sie haben mich unterstützt, wo und wie sie nur konnten. Mit den Pilotenkollegen treffe ich mich heute noch zu einem Bier. Und auch bei Skyguide bekomme ich immer vollen Support. Das ist toll.

Welche «innere» Haltung haben Sie entwickelt, um mit der ganzen Lebensumstellung zurechtzukommen?

Ich denke, ich bin jemand, der mit Veränderungen allgemein gut zurechtkommt. Ich bin immer flexibel, das kommt vermutlich von meiner Zeit als Pilot her. In einem solchen Beruf muss man einfach flexibel bleiben, weil eine Situation sich schlagartig ändern kann. Ausserdem bin ich von Natur aus ein Optimist – und jemand, der Herausforderungen liebt.

Welche Art von Herausforderungen?

Zum Beispiel in unangenehmen oder gefährlichen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und gleichzeitig rasch zu handeln. Also bin ich sehr bald nach meiner Diagnose Mitglied von Retina Suisse geworden, um mich im Austausch mit anderen sehbeeinträchtigten Menschen aktiv meiner Erkrankung zu stellen. Nun bin ich schon seit einem Vierteljahrhundert bei Retina Suisse.

Und wann Sie sind in den Vorstand von Retina Suisse gewählt worden?

Vor drei Jahren, als man neue Vorstandsmitglieder suchte. Weil ich die Aufgaben des Vorstands so spannend finde, habe ich ausserdem für die Nachfolge unserer Ex-Präsidentin Susanne Trudel kandidiert. Und prompt haben mich die Mitglieder Ende April zum neuen, siebten Präsidenten von Retina Suisse gewählt. Meine Freude ist gross!

Das ging alles recht schnell, bloss drei Jahre. Und jetzt hat Retina Suisse zum ersten Mal einen Präsidenten aus der Romandie.

Ja, das gehört eben auch zu den Herausforderungen im Leben, die ich mit Vergnügen annehme. Herausforderungen interessieren mich einfach, und der Vorstand von Retina Suisse war schon immer ein tolles Team. Aber es fehlten lange Zeit Personen aus der französischen und italienischen Schweiz: Das war auch ein Grund für mein Interesse, im Vorstand mitwirken zu dürfen.

Wo steht Retina Suisse aktuell, aus Ihrer persönlichen Sicht?

Wir sind sehr gut, sehr eng vernetzt mit Persönlichkeiten und Institutionen aus dem Bereich der ophthalmologischen Medizin und Forschung. Wir verfügen also über viel Fachkompetenz und können Expertisen abgeben. Wir können wissenschaftlich fundiert informieren und beraten. Das ist unsere grosse Unique Selling Proposition, unser einzigartiger Schwerpunkt, den wir unbedingt erhalten und stärken müssen. Denn das Bedürfnis nach Information und Beratung ist gerade in den letzten Jahren noch wichtiger geworden.

Welches sind die Herausforderungen für Sie als neuer Präsident von Retina Suisse?

Das wertvolle Erbe meiner Vorgänger*innen zu bewahren. Dann gilt es, auf dieser Basis weitere positive Entwicklungen für unsere Vereinigung aufzugleisen, sie in die Zukunft zu führen. In eine Zukunft, in der sich wegen des technologischen Fortschritts immer mehr Möglichkeiten auftun.

Was werden Ihre ersten konkreten Schritte sein?

Mir geht es um die Positionierung von Retina Suisse im Verhältnis zu den anderen Organisationen für oder von Menschen mit einer Sehbehinderung. Es ist sinnvoll, die Zusammenarbeit mit diesen Organisationen weiter zu stärken. Aber gleichzeitig müssen wir unsere Position und unser Dienstleistungsangebot klar definieren und uns von den anderen deutlich abheben.

Wie wollen Sie sich abheben?

«Wir sind wir», könnte unser Slogan lauten. Damit will ich sagen, dass unsere Identität als Vereinigung eng an die wissenschaftlich-medizinische Forschung gekoppelt ist. Wir setzen uns für bessere Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zugunsten aller Betroffenen ein – das ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal, das wir weiter stärken müssen. Die breite Öffentlichkeit soll aber auch wissen, dass wir uns für ein besseres Leben der Betroffenen engagieren, indem wir uns mit konkreten Hilfsmitteln beschäftigen und auf die entsprechenden Partnerorganisationen verweisen.

Von der Forschung bis zum Lebensalltag, das ist ein breiter Bogenschlag.

Der ist kleiner, als man denkt. Mein Augenmerk liegt unter anderem auf jenen Mitgliedern von Retina Suisse, die wie ich berufstätig sind. Diese müssen wir mehr fördern, da sie mit komplexen Herausforderungen konfrontiert sind. Wie man Augenerkrankung, Beruf und ein aktives Familienleben miteinander vereinbaren kann, das liegt mir sehr am Herzen. Unter den neu gewählten Vorstandsmitgliedern gibt es ja zwei Personen, die sich besonders intensiv mit diesen Themen befassen. Claudia Genini ist eine Betroffene, die ein anspruchsvolles Berufs- wie auch Familienleben führt. Und als Vater einer betroffenen Person bringt Markus Imboden die Perspektive der Angehörigen ein.

Sie selbst sind auch ein Vorbild, was ein aktives Berufsleben als Betroffener anbelangt.

Ich habe sehr schnell eingesehen: Das Leben bleibt nicht stehen, nur weil ich eine alles verändernde Diagnose erhalten habe. Es gibt immer einen Weg in eine aktive Zukunft, und zwar egal, ob man noch im Berufsleben steht oder pensioniert ist.

Aber nicht alle Menschen sind so flexibel veranlagt wie Sie selbst.

Entscheidend ist die Fähigkeit zur Anpassung, und die kann man auch trainieren. Genau das ist es: Wir vom Retina-Suisse-Vorstand wollen die Methoden noch mehr vertiefen und verfeinern, wie wir unseren Mitgliedern und anderen Interessierten bei der Beratung die Möglichkeiten eines aktiven Lebens aufzeigen können.


«Dank KI lässt sich die Effizienz unserer Vereinigung zusätzlich verbessern. Weiter kann künstliche Intelligenz auch der Retina-Suisse-Community nützen.»


Wo soll Retina Suisse in zehn Jahren stehen, was ist Ihre Vision?

Sagen wir es so: Die vier Pfeiler von Retina Suisse sind wissenschaftlich fundierte Information, Beratung, Forschung und Innovation. Diese möchte ich weiter ausbauen.

Sie setzen also auf die Strategie der Stärkung.

Ja, weil ich denke, dass wir im Hinblick auf die breite Öffentlichkeit in diesen vier Bereichen noch mehr Gewicht haben können. In zehn Jahren werden wir technologisch-medizinisch sehr viel weiter sein, also müssen wir schon jetzt noch enger dranbleiben.

Wollen Sie auch etwas völlig Neues einführen?

Ich möchte als erstes mit dem Vorstand eine Strategie im Hinblick auf KI, die künstliche Intelligenz, entwickeln. Von dieser können wir Betroffene gewaltig profitieren, und Retina Suisse muss hier Schritt halten.

Das heisst konkret?

Unsere Partnerorganisation «Apfelschule» bietet schon seit einiger Zeit Kurse in Sachen KI und dessen Anwendungsmöglichkeiten an. Daher sollten wir von Retina Suisse uns auf ganz spezifische Aspekte konzentrieren. Zum Beispiel lässt sich dank KI die Effizienz unserer Vereinigung selbst zusätzlich verbessern. Weiter kann künstliche Intelligenz auch der ganzen Retina-Suisse-Community nützen – indem KI unsere Beratungs- und Informationsarbeit wesentlich unterstützt.

KI ist ja schon jetzt das wichtigste Informationswerkzeug.

Genau, Information spielt sich bereits heute meist digital ab und wird es künftig noch viel stärker tun. Also müssen wir KI für unsere typischen Tätigkeiten auf jeden Fall nutzen. Unsere Informationsleistungen auf diese Weise zu verbessern bedeutet übrigens auch, das Band zur Forschung zu stärken, das ist naheliegend.

Und der Datenschutz?

Natürlich werden wir die allgemeinen Datenschutzregeln immer strikte befolgen. Aber den Datenschutz für unseren speziellen Tätigkeitsbereich müssen wir schon umfassend definieren: Welche Daten der Betroffenen können ohne weiteres in KI-Systeme eingegeben werden, und welche sind zu privat oder stark sicherheitsrelevant? Information in unserem Bereich kann rasch heikel werden.

Zudem sollte die breite Öffentlichkeit informiert werden, und zwar über Retina Suisse selbst.

Genau das wollte ich gerade sagen. Wir haben eine dreifache Informationsmission: die Patient*innen umfassend informieren, dazu auch die breite Öffentlichkeit, weil viele Betroffene noch immer nicht in angemessener Beratung sind. Ausserdem müssen wir die Augenärzt*innen besser informieren.

Die Augenärzt*innen informieren?

Viele von ihnen kennen Retina Suisse immer noch nicht, oder nicht wirklich. Dasselbe gilt in Bezug auf die von uns herausgegeben, sehr nützlichen Info-Broschüren über die wichtigen Augenerkrankungen.

Herr Delétraz, eine letzte Frage: Was ist Ihr Lebensmotto?

Flexibel sein, sich anpassen können. Und einfach das lieben, was uns das Leben bietet, zusammen mit anderen Menschen. Wollen Sie ein konkretes Beispiel, das mir spontan in den Sinn kommt?

Spontaneität ist immer gut!

Es ist etwas ganz Simples: Dank der modernen Technologie kann ich die Etiketten der Flaschen in meinem kleinen Weinkeller scannen – um den richtigen Tropfen für richtigen Moment zu finden (lacht).