Gendermedizin: Frauenaugen werden anders krank und wieder gesund

Die Gesundheit von Männern und Frauen ist nicht gleich, besagt die relativ junge Disziplin der Gendermedizin. Das betrifft auch die Augen: Frauen haben ein deutlich höheres Risiko, sehbehindert zu werden oder zu erblinden. Umgekehrt schlagen bei ihnen Behandlungen besser an.

Die Gendermedizin bzw. geschlechtsspezifische Medizin hat sich in den letzten Jahren als wichtiger Forschungszweig etabliert. «Auch in der Augenheilkunde gewinnt Gendermedizin zunehmend an Bedeutung», sagt die Schweizer Ophthalmologin Prof. Dr. med. Maya Müller, ärztliche Direktorin des Instituts für Refraktive und Ophthalmo-Chirurgie (IROC) in Zürich.

Für Augenärzt*innen sei es wichtig, Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu verstehen. So könnten Behandlungsstrategien optimiert und die Patient*innensicherheit erhöht werden, betont Müller, die auch Expertin bei der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) sowie Mitglied der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin ist.

Augenerkrankungsrisiko um 15 Prozent höher

Laut Prof. Müllers Worten habenzum Beispiel Frauen in den USA ein um 15 Prozent höheres Risiko als Männer, sehbehindert zu werden oder zu erblinden. Hierbei bezieht sich Müller auf Daten der amerikanischen «IRIS Registry», der weltgrössten Datenbank für Augenheilkunde.1

Gemäss diesen Daten sind Frauen unter anderem weltweit zwei- bis viermal häufiger vom Engwinkelglaukom betroffen, einer Form des Grünen Stars.2 Das liegt laut Müller zum Teil an anatomischen Unterschieden, da Frauen generell oft kleinere Augen und im vorderen Augenteil engere Vorderkammerwinkel haben.

An der sogenannten endokrinen Orbitopathie leiden Frauen sogar vier- bis fünfmal häufiger als Männer3. Es geht hierbei um eine Erkrankung, die sich durch stark hervortretende Augen bemerkbar macht. Dies hänge mit der Tatsache zusammen, dass autoimmune Schilddrüsenerkrankungen wie Morbus Basedow bei Frauen viel häufiger auftreten würden, so Prof. Müller.

Neben der Anatomie spielt der Östrogen-Spiegel eine grosse Rolle

Grauen Star wiederum entwickeln Frauen in vielen Regionen der Welt bis zu 1,7-mal häufiger, insbesondere nach der Menopause.4 Hier könnte der Rückgang von Östrogen eine Rolle spielen: Dieses weibliche Hormon gilt nämlich als Schutzfaktor gegen oxidativen Stress im Auge, und dieser Schutz lässt in den Wechseljahren oft nach.

Auch die Hornhaut ist bei Frauen anders, nämlich dünner und sensibler. Das dürfte ebenfalls an den Hormonen liegen, weil Östrogen einige Funktionen in der Hornhaut beeinflussen kann, zum Beispiel jene der Nerven.5 Die dadurch erhöhte Sensibilität führt möglicherweise auch zu einer grösseren Neigung zu Augentrockenheit – einer typischen Augenerkrankung der Frau. Auch kann sich beim Tragen von Kontaktlinsen schneller ein Gefühl des Unbehagens bemerkbar machen.

Psychosoziale Faktoren fördern die Therapie

Ausserdem zeigen sich Geschlechterunterschiede bei der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Therapien. Frauen reagieren häufig sensibler auf bestimmte Medikamente oder auf konservierende Zusatzstoffe in Augentropfen.

Andererseits schlagen Therapien oft besser an als bei Männern, weil Frauen ihre Behandlung konsequenter umsetzen. Frauen würden zum Beispiel Glaukomtropfen regelmässiger anwenden oder benötigten aufgrund besserer Selbstbeobachtung weniger Kontrolluntersuchungen bei Altersabhängiger Makuladegeneration, erläutert Prof. Müller. Somit spielten auch psychosoziale Faktoren eine Rolle.

Geschlechtsspezifische Ansätze fehlen noch im klinischen Alltag

Geschlechterspezifische Unterschiede in der Ophthalmologie zeigen sich also mit einer gewissen Regelmässigkeit. Doch die Umsetzung dieser Erkenntnisse im klinischen Alltag gestaltet sich schwierig. «Viele Augenärzt*innen sind nicht ausreichend geschult, geschlechtsspezifische Faktoren einzubeziehen», sagt Müller.

Vor allem aber sei noch nicht genügend erforscht, was das konkret für Therapie und Prävention bedeutet.6 Laut Müller fehlen detaillierte Langzeitstudien, welche die Unterschiede in Bezug auf Häufigkeit, Krankheitsverlauf und Behandlungsergebnisse analysieren. Und es gibt keine Richtlinien, die geschlechterspezifische Therapieansätze vorschlagen.

Hoffnungen setzt die Augenspezialistin Müller in Big Data und künstliche Intelligenz: «Sie ermöglichen präzisere Auswertungen. Und am Ende werden beide Geschlechter von einer optimierten, personalisierten Therapie profitieren.»

Redigiert von PJ (Juni 2025), Quelle: Artikel der deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft

Literatur:

(1) IRIS Registry, Ophthalmology Times, 4 November 2023. Do women bear a greater burden for blindness and visual loss in the United States? Vgl. hier: AAO 2023: Do women bear a greater burden for blindness and vision loss in the United States? (ophthalmologytimes.com)

Tehrani, S. (2015). Gender difference in the pathophysiology and treatment of glaucoma. Current eye research, 40(2), 191-200.

(2) Ponto, K. A., et al. (2013). Gender-Specific Aspects in Thyroid-Associated Orbitopathy. Experimental and Clinical Endocrinology & Diabetes, 121(6), 320-325.

(3) World Health Organization (WHO). Global Data on Visual Impairments 2010. Available from: https://www.who.int

(4) Koskela, T., Manninen, J., & Laitinen, T. (2020). Gender and age-related differences in central corneal thickness. Journal of Cataract and Refractive Surgery

(5) Suggested Principles for Sex and Gender Data in Ophthalmology Clinical Trials, JAMA Ophthalmol. 2024;142(2):131-132. doi:10.1001/jamaophthalmol.2023.6281 IRIS Registry, Ophthalmology News, 3 November 2023.