Wenn Behinderte zum Kostenfaktor werden

Es ist ein langes Wort, das Behindertengleichstellungsgesetz. Lange ist es auch schon in Kraft, nämlich seit 2004. Rufen wir uns doch schnell ein wichtiges Ziel dieses Gesetzes in Erinnerung: Der öffentliche Verkehr sollte innert 20 Jahren hindernisfrei werden.

Autor: Stephan Hüsler, Geschäftsleiter von Retina Suisse

Ist das Ziel erreicht? In Bezug auf die Anzeige- und Informationssysteme sieht die Bilanz nicht so schlecht aus. Die Dienstleister des öV haben mehr als drei Viertel ihrer Anzeigetafeln etc. entsprechend aufgerüstet.

Ganz anders zeigt sich die Situation bei den Haltestellen des öV. Hier ist das wichtigste Element der Bau einer 22 Zentimeter hohen Haltekante, damit das Ein- und Aussteigen auf gleicher Höhe mit dem Perron oder dem Trottoir erfolgen kann. Leider sind in all den Jahren nur etwas mehr als 10 Prozent der Haltestellen angepasst worden.

Zu wenig allgemeiner Nutzen?

Schauen wir uns ein konkretes Beispiel an. Im Kanton Luzern gibt es 671 Haltestellen von Bus und Bahn – und bis Ende 2023 sind davon nur 129 aufgerüstet worden. Wie das? Die für die Umsetzung zuständigen Fachstellen beklagen sich: Der Umbau sei kompliziert, teuer und unverhältnismässig, was den allgemeinen Nutzen angehe.

Wie bitte? Es geht hier doch um eine bessere Alltagsbewältigung für Personen, die körperlich benachteiligt sind, also um Grundrechte, um menschliche Würde. Und nicht um eiskalte Kosten-Nutzen-Abwägungen. Warum sollen wir Menschen mit einer Behinderung schuld sein an einem «Verlustgeschäft»?

Die grösste Ironie liegt aber im Nutzen. Die Einrichtung der höheren Haltekante nützt nicht nur den sogenannten Behinderten, für die eben «behindertengerecht» gebaut wird (was ist eigentlich gerecht daran, wenn wir dann diskriminiert werden wegen der Kosten und vielen Umstände?) – das Ganze nützt vielen weiteren Personengruppen.

Es profitieren mehr Menschen, als man so meint

Höhere Haltekanten helfen nämlich auch Menschen, die wegen eines Sturzes an Krücken gehen. Oder auch Leuten mit Rollator, mit einem Kinderwagen, mit schwerem Gepäck oder mit einem übervollen Einkaufswägelchen.

Ausserdem profitieren auch die Regionalbahnen selber. Erst die hohen Haltekanten ermöglichen ein wirklich schnelles Umsteigen, und ohne den raschen Wechsel wäre der eng getaktete Fahrplan der Agglo-S-Bahnen gar nicht möglich. Also werden auf diese Weise auch die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit des Fahrplans weiter gefestigt.

Zu guter Letzt – oder vielmehr zu «unguter» Letzt – stellt sich folgende Frage: Wieso kostet eigentlich so ein Haltekante-Bau rund eine halbe Million? Wie können die notwendige Menge Kies, Randsteine, Pflasterung und Asphalt sowie die Manpower und Logistik überhaupt so teuer sein?

20 Jahre lang nichts getan

Der Verdacht lautet: Man lastet die ganze Sanierung eines Strassenabschnitts oder von Geleisen diesem kleinen Umbau an. Die Verantwortlichen hatten 20 Jahre lang Zeit, aber taten lange nichts. Wenn sie früher angefangen hätten, wäre es nicht so kompliziert und teuer geworden.

Und vor allem müsste man Menschen mit einer Behinderung nicht zum Kostenfaktor herabwürdigen.

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