Für manche Menschen mit Sehbehinderung sind Führhunde wichtig im Alltag. Zwei Mitglieder von Retina Suisse erzählen von ihren Eindrücken und Erlebnissen.
Erste Story
Veränderung auf vier Pfoten – mein erstes Jahr mit «India»
Von Jeannine Sutter (im Bild), Vorstandsmitglied Retina Suisse und Mitglied Retina Suisse Youth, jeannine.suter@retina.ch;
Ich hatte schon recht lange das Gefühl, dass ich gerne mit vier Pfoten an meiner Seite unterwegs wäre. Bis ich aber endlich den ersten Schritt auf dem Weg zum Blindenführhund machte, dauerte es Jahre. Ich hatte keine Erfahrung mit Hunden und wollte die damit verbundene Verantwortung nicht auf die leichte Schulter nehmen. Zudem wusste ich nicht, ob ein Blindenführhund überhaupt in mein Leben passte und ob ich mich mit den Veränderungen im Alltag wohl fühlen würde.
Heute sind diese Überlegungen für mich bereits in weite Ferne gerückt. Führhündin «India» lebt seit etwa einem Jahr bei mir. Ja, es hat sich sehr viel in meinem Leben verändert, und ich könnte so einiges darüber schreiben. Am wichtigsten sind für mich für die vier folgenden Aspekte.
Die täglichen Spaziergänge halten in Schwung
Als erstes wäre da die Tagesstruktur. India muss tagsüber regelmässig nach draussen, will schnuppern, spielen und die Welt entdecken. Dazu gehört auch, täglich ein bis zwei Stunden spazieren zu gehen. Vorbei ist es mit den faulen Sofa-Tagen bei schlechtem Wetter, und wer morgens nicht aufsteht und Frühstück macht, wird wachgeleckt. Wir sind zwar beide morgens gemütlich unterwegs, dank India bin ich aber deutlich motivierter.
Die neue Tagesstruktur war zu Beginn eine Belastung, die man nicht unterschätzen sollte. Ich hatte Mühe zu entspannen und schaute ständig auf die Uhr, wann die nächste Runde fällig würde. Ich hatte sehr hohe Ansprüche an mich selbst, um den Bedürfnissen des Hundes gerecht zu werden. Mittlerweile hat sich das alles eingespielt und bedeutet keinen Stress mehr. Die täglichen Spaziergänge sind für mich wertvolle Auszeiten im Alltag geworden: In diesen Momenten muss ich mich auf India konzentrieren, und es gibt dann keinen Raum für Arbeit, Probleme und Pendenzen.
Ich bin fast doppelt so schnell unterwegs
Stark verändert hat sich mein Leben auch bezüglich Mobilität als Mensch mit Sehbehinderung. Ich habe jetzt eine sehr selbstbewusste Helferin an meiner Seite. Mit India im Cockpit bin ich zu Fuss beinahe doppelt so schnell unterwegs. In hektischen Situationen, wie etwa an Bahnhöfen zu den Stosszeiten, war ich früher oft angespannt oder gereizt. Heute kann ich mich viel besser davon distanzieren, weil ich weiss, dass India uns sicher und zügig voranbringt.
Eine spezielle Erfahrung war für mich der Spätherbst. Es wurde dunkel, überall glänzte nass der Boden, und die Autoreifen rauschten. Mein Sehrest war immer weniger hilfreich, und ich musste mich noch mehr auf Indias Führung verlassen. Dies war sowohl für unsere Beziehung gut als auch für das Training.
Ich ertappe mich auch heute noch dabei, dass ich India bei der Führarbeit manchmal zu sehr helfe. Zum Beispiel indem ich das Tempo verringere, wenn ich ein Hindernis kommen sehe. Bremsen vor Hindernissen ist aber ganz klar ihre Aufgabe.
Das disziplinierte Training macht mich selbstbewusst
Das gemeinsame Training und die dazu notwendige Geduld sind ein weiterer Punkt, der wohl vielen nicht ganz leichtfällt. Damit die Führarbeit des Hundes präzise bleibt, muss man die Genauigkeit immer wieder einfordern. Das bedeutet, dass man sich manchmal umdreht und die Stelle nochmals übt, wenn der Hund an einem Randstein nicht sauber stehen geblieben ist.
Für India und mich erfordert dies sehr viel Disziplin. Wir sind beide ungeduldig und wären am liebsten immer schon drei Strassen weiter. Das Training und die Verantwortung für einen Hund haben mich jedoch auch selbstbewusster werden lassen. Ich habe das Gefühl, ich werde als Mensch mit Sehbehinderung auch anders wahrgenommen – weil ich jetzt auch noch Hundehalterin bin.
Mit den Mitmenschen komme ich schnell ins Gespräch
Die sozialen Interaktionen und das Umfeld sind eine weitere grosse Veränderung. Ich war mir im Vorfeld bewusst, dass man mit einem Blindenführhund noch mehr auffällt als mit einem weissen Stock. Unsere Mitmenschen haben viele Fragen, und der Hund bietet eine einfache Möglichkeit, um ins Gespräch zu kommen.
Ich persönlich komme gerne mit fremden Menschen ins Gespräch und spreche gerne über India. Es gibt aber auch Momente, in welchen ich lieber über mich und meine Arbeit sprechen oder mich nach einem anstrengenden Tag gar nicht unterhalten möchte. Hier die richtige Balance zu finden, ist nicht immer ganz einfach.
Eindrücklich finde ich auch, dass ich in den letzten fünf Jahren kaum Kontakte in meinem Wohnquartier in Kleinbasel geknüpft hatte. Aber als India einzog, stellte ich fest, dass man mich sehr wohl kannte. Denn viele sprachen mich auf meine neue Begleiterin an. Jetzt nach bald einem Jahr mit Hund kenne ich sehr viele Menschen hier im Quartier, auch wenn ich meistens deren Namen nicht weiss – sondern nur den ihrer Hunde.
Zweite Story
Ein unvergesslicher Besuch bei der Blindenhundeschule in Allschwil
Von Fabian Supersaxo-d’Agostino, Leiter der Retina-Suisse-Gesprächsgruppe Oberwallis
Unsere Gespräch- und Selbsthilfegruppe durfte am Samstag, 5. April 2025, einen ganz besonderen Ausflug unternehmen. Mit sechs Teilnehmenden (fünf Personen aus dem Oberwallis, eine aus Obwalden) und drei Begleitpersonen besuchten wir die Blindenhundeschule Allschwil in Baselland. Was uns dort erwartete, hat uns tief beeindruckt – und auch positiv überrascht.
Bereits bei der Ankunft wurden wir herzlich empfangen von Ronny Ramseier, der für Fundraising und Empfang zuständig ist. Ronny und auch andere Mitarbeitende der Schule nahmen sich viel Zeit, uns Einblick in die vielfältige und anspruchsvolle Ausbildung der verschiedenen Blindenführhunde zu geben.
Die Hunde haben Köpfchen
Am Anfang der Besichtigung wurde uns ein Film gezeigt mit audiovisuellen Untertiteln, damit auch blinde Personen dem Film folgen konnten. Besonders spannend war zu erleben, wie intensiv sich die Beziehung zwischen Hund und Mensch aufbaut – mit Vertrauen, Geduld und einem beeindruckenden Gespür für die Bedürfnisse von Menschen mit einer Sehbehinderung.

Wir durften bei Trainingsübungen zusehen und selbst erleben, wie sicher und souverän die Hunde ihre zukünftigen Halter durch Alltagssituationen führen. Viele von uns waren tief bewegt, wie professionell und liebevoll zugleich hier gearbeitet wird. Einige Teilnehmende sagten spontan: «Ich hätte nie gedacht, wie viel Können und Wissen in solchen tollen Hunden steckt.» (im Bild: Gruppenfoto vom Besuch in Allschwil)
Jungtiere streicheln
Neben dem Informativen kam auch das Persönliche nicht zu kurz: Bei einem gemütlichen Austausch, als wir die jungen Hunde streicheln und ihnen beim Spielen zusehen durften, konnten wir weitere Fragen stellen, welche uns Ronny in seiner angenehmen Art beantwortete. Es wurden Erfahrungen geteilt und neue Kontakte geknüpft. Der Ausflug war nicht nur lehrreich, sondern stärkte auch das Gemeinschaftsgefühl in unserer Gruppe.
Glück hatten wir auch beim Wetter, dass uns bereits die ersten frühlingshaften Temperaturen beschert hatte.
Wir danken der Blindenhundeschule Allschwil herzlich für ihre Offenheit, ihre Geduld und ihr grossartiges Engagement. Ein besonderer Dank geht an Nadine Burla, Ronny Ramseier und Ugo Sprecher – und wir können allen nur empfehlen, diese eindrucksvolle Institution selbst einmal zu besuchen.
Hinweis Agenda: Regionaltreffen Deutschschweiz – Besuch der Schule für Blindenführhunde Allschwil