Patientenorganisationen sind wichtig: Sie informieren seriös über die jeweilige Krankheit, bieten Unterstützung im Alltag und verhindern auch Verzweiflung. Die Betroffenen merken, dass sie nicht allein sind und aktiv bleiben können.
Autor: Stephan Hüsler, Geschäftsleiter von Retina Suisse
Kann ich Sie als Leserin oder Leser bitten, sich in folgende Situation zu versetzen? Sie erschrecken, gleichzeitig kommt ein Gefühl der Lähmung auf: Ihre Ärztin oder Ihr Arzt hat Ihnen soeben die Diagnose einer schweren, chronischen Augenerkrankung gestellt. Sie fragen sich sofort, ob Sie das Augenlicht verlieren. Das Ganze ist deprimierend, wie betäubt verlassen Sie die ophthalmologische Praxis.
Erst zu Hause fallen Ihnen wichtige Fragen ein, die Sie dem Augenarzt oder der Augenärztin stellen wollten. Wie lange werde ich noch sehen? Wie lange kann ich selbständig leben? Welche konkreten Hilfestellungen im Alltag gibt es, und wer hilft denn überhaupt?
Das Fragenkarussell dreht sich weiter: Werde ich meinen Job verlieren, meine Freunde? Hat das Leben überhaupt noch einen Sinn, wenn ich immer weniger sehe oder sogar blind werde?
Wenn die Zeit für Beratung zu knapp ist
Diese ganze Zuspitzung mag pathetisch klingen, ist aber sehr realistisch. Die Erfahrung in der Praxis zeigt: Wer zum Beispiel an altersbedingter Makuladegeneration leidet, ist doppelt so anfällig für psychische Erkrankungen als gesunde Menschen.
Nun nimmt die Zahl der Menschen mit Augenproblemen stetig zu. Daher müssen die ophthalmologischen Praxen ein immer höheres Aufkommen an PatientInnen bewältigen, und auch die Kliniken leiden unter personellen Engpässen. Die Augenärztinnen und -ärzte finden immer seltener die nötige Zeit für eine umfassende Beratung.
Somit fühlen sich die betroffenen Menschen noch stärker allein gelassen und isoliert. Das Bedürfnis nach praktischer Anleitung wie nach psychologischer Unterstützung wächst. Dabei sind sich nicht nur viele Betroffene, sondern auch ihre Angehörigen und selbst die Ärzteschaft manchmal gar nicht bewusst, dass rasche «erste Hilfe» möglich ist – und zwar durch die Patientenorganisationen, kurz PO genannt.
In der Patientenorganisation Retina Suisse sind u.a. Menschen mit seltenen Krankheiten vereint. Als selten gilt eine Erkrankung, wenn innerhalb einer Gruppe von 10’000 Personen höchstens 5 von ihr betroffen sind. An Retinitis pigmentosa (kurz RP) zum Beispiel, einer schweren Degeneration des Augenhintergrundes, leiden gemäss Statistiken 1 bis 3 Personen aus besagter Referenzgruppe. Diese Verhältnisse zeigen aber, dass trotz des Status «selten» die Zahl der betroffenen Personen beileibe nicht so gering ist.
Mehr nützliche Dienstleistungen als man meint
Patientenorganisationen im Umfeld seltener Krankheiten können vielerlei Unterstützung bieten: Sie fördern die Solidarität unter Betroffenen, beraten in praktischen Belangen, liefern wissenschaftlich fundierte Informationen und leisten auch einen gewissen psychologischen Support. Dieser gelingt besonders dann, wenn die beratende Person selber auch eine Augenkrankheit hat.
Unsere Schweizer PO, deren Geschäfte ich als RP-Betroffener führen darf, heisst Retina Suisse. Wir sind eine Vereinigung von PatientInnen mit Pathologien der Netzhaut, kümmern uns aber auch um Personen mit anderen ernsten Erkrankungen der Augen.
Wir haben rund 1600 Mitglieder, und darunter gibt es so manche, die wegen der Krankheit psychisch belastet sind. Wir bieten erste klärende Gespräche an und vermitteln bei Bedarf professionelle therapeutische Unterstützung; diese kann bis zu stationären Aufenthalten gehen.
Wir führen kostenlos individuelle Beratungen am Telefon, im Internet – also per Mail oder Videokonferenz – und in Präsenz unter vier Augen durch. Dazu kommen Gruppengespräche, Webinare sowie öffentliche Veranstaltungen. Wer als Betroffene oder Betroffener daran teilnimmt, merkt schnell: Man ist nicht alleine.
Durch unsere Vermittlung entsteht eine Solidarität zwischen den Betroffenen selber, die aufbauend wirkt. Der Austausch ist oft sehr schnell und offen: Es wird vertrauensvoll und klar kommuniziert. Menschen, die sich in einer PO organisieren, wollen nämlich nicht klagen – sie wollen Informationen.
Erkenntnisse aus der Forschung verständlich vermitteln
Und das ist eine weitere wichtige Aufgabe unserer Patientenorganisation: die Aufbereitung wissenschaftlicher Texte in Form von verständlichen Informationen. Unsere Mitglieder und weitere Personenkreise sind sehr daran interessiert, Ergebnisse aus der Forschung auf simple, aber seriöse Weise vermittelt zu bekommen.
Apropos seriös: Wir setzen stark auf die Vertrauenswürdigkeit von Informationen über Augenerkrankungen. So haben wir unter anderem in unserem Retina Suisse Journal die Rubrik «Fake News». Dort ordnen wir zweifelhafte oder Falschinformationen ein und kommentieren sie. Auf diese Weise tragen wir dazu bei, dass die Betroffenen nichts unternehmen, das ihnen schaden könnte. Wichtig ist auch, sich keine falschen Hoffnungen zu machen.
Der Anschluss an eine PO gibt den Betroffenen ausserdem die Möglichkeit, ihren Anliegen und Bedürfnissen öffentlich Gehör zu verschaffen. Als Gruppe wahrgenommen zu werden stärkt das Selbstbewusstsein. Und schliesslich erleichtert eine PO auch das Auffinden spezialisierter Augenärztinnen und -ärzte, hilft beim Beantragen von Hilfsmitteln im Alltag und sorgt nötigenfalls für einen Rechtsbeistand.
Am meisten stärkt aber folgende Einsicht: Über eine Patientenorganisation kann ich als Betroffene oder Betroffener meine Kräfte zur Selbsthilfe aktivieren.