Zu sehen, was von der Seite kommt, ist im Strassenverkehr sehr wichtig. Nun werden die Menschen immer älter und sind häufiger von Augenerkrankungen betroffen – also wächst das Risiko von Gesichtsfeldausfällen, die meist das seitliche Sehen betreffen. Die Folgen können fatal sein (Bildmontage: Institut für Rechtsmedizin Universität Zürich).
Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse
Wenn sich ein Verkehrsunfall ereignet, ist das meist die Folge mehrerer ungünstiger Umstände. Vielfach trägt ein eingeschränktes Sehvermögen zu einem Strassenunglück bei. Um sicher fahren zu können, denken die meisten spontan an die Notwendigkeit einer guten Sehschärfe. Dazu muss sich aber auch die Fähigkeit gesellen, bei Dämmerung gut zu sehen – und ausserdem früh wahrzunehmen, was von der Seite kommt.
Gerade das Seitlich-Sehen ist eine tückische Sache. Mit fortschreitendem Alter und dem möglichen Auftauchen einer Augenerkrankung sehen viele Menschen aus den Augenwinkeln heraus nicht mehr so gut.
Hierbei handelt es sich um eine Abschwächung oder gar den Ausfall eines Teils des Gesichtsfeldes, in der Fachsprache «Skotom» genannt. Bis zu einem gewissen Grad stört das zu Hause oder beim Gehen draussen nicht, weil das Gehirn die fehlenden Stellen ergänzt.
Doch beim Autofahren werden diese Ausfälle des Gesichtsfeldes schnell gefährlich. Je nachdem, in welchem Teil des Gesichtsfeldes es zu Defiziten kommt, sehen die Lenkerinnen und Lenker manchmal viel zu spät, wenn Fussgänger, ein Velo oder Motorrad seitlich auftauchen.
Das Risiko eines Unfalls wächst, wenn der Ausfall an beiden Augen an der gleichen Stelle auftritt. Wenn nur ein Auge betroffen ist, kann die fehlende Stelle oft durch das gesunde Auge kompensiert werden.
Öffentlichkeit muss aufgeklärt werden
Wie häufig sind Verkehrsunfälle mit einem Gesichtsfeldausfall als Ursache? Dazu gibt es einige wenige Einzelstudien, die nur mit Vorsicht verallgemeinert werden können. So analysierte das Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich 2016 die Daten von 28 Unfallverursachern und stellte fest:
- Die 28 Personen waren insgesamt in 34 Unfälle verwickelt und wiesen einen relevanten Defekt des Gesichtsfeldes auf.
- In 20 Fällen fuhren sie einen Fussgänger oder eine Fussgängerin auf dem Zebrastreifen an.
- Die meisten der 34 Unfälle führten zu verletzten, schwerverletzten oder getöteten Personen.
Im Jahr 2023 hat ein Forschungsteam der University of Western Australia auf Einladung der American Society of Ophthalmology eine grössere Studie vorgestellt. Das Team wertete die Daten von über 31’000 Autofahrerinnen und Autofahrern aus, die in Westaustralien unterwegs waren und ein Alter von 50plus aufwiesen. Die Daten wurden in einem Zeitraum von 29 Jahren gesammelt.
Das Ergebnis: Mehr als 4000 ältere Lenkerinnen und Lenker – und damit 14 Prozent der älteren Fahrer in Westaustralien – waren mindestens in einen Autounfall verwickelt. Ausserdem litt über die Hälfte von ihnen an Ausfällen des Gesichtsfeldes.
«Wir hoffen, dass diese Ergebnisse helfen, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie wichtig es ist, ein ausreichendes Sichtfeld zu haben, um weiterhin sicher Auto fahren zu können.» Mit diesen Worten zitiert das deutsche Newsportal «Biermann-Medizin» die Leiterin des australischen Forschungsteams, Dr. Siobhan Manners.
Laut der Ärztin denken noch zu viele Menschen, dass nur eine gute Sehschärfe oder eine klare Sicht für sicheres Fahren notwendig sei. Ausfälle des Gesichtsfeldes sind also eher eine verkannte Gefahr beim Autofahren.
Weiter kam das Team von Dr. Manners gemäss «Biermann-Medizin» zu den folgenden Einsichten:
- Gesichtsfeldausfälle jeglicher Art auf beiden Augen steigern das Risiko eines Autounfalls um 84 Prozent.
- Ein mässiger Gesichtsfeldausfall auf einem Auge erhöhte das Unfallrisiko nur, wenn er im linken oberen oder unteren Quadranten des Gesichtsfeldes auftrat.
- Hingegen konnte ein zentraler Sehverlust auf einem der beiden Augen nicht mit einem Anstieg des Unfallrisikos in Verbindung gebracht werden.
Grauer und Grüner Star ziehen Unfallrisiko nach sich
Eine Studie der Schweizer Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) aus dem Jahr 2012 thematisiert das Verhältnis von chronischen Krankheiten und Unfallrisiko. Demgemäss geht die grösste Gefahr hinter dem Steuer von der Schlafapnoe aus.
Alkohol- und Drogenmissbrauch, Demenz und Grauer Star (Trübung der Augenlinse) legen mindestens ein mittleres Unfallrisiko nahe. Grüner Star (zu hoher Augendruck) und die im Vergleich deutlich häufigeren Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehen mit einem geringen bis mittleren Risiko einher.
Ältere Menschen sind häufiger von chronischen Krankheiten betroffen. Darunter finden sich auch verschiedene progressive Augenleiden oder Hirnschläge, die alle eine Zunahme von verkehrsrelevanten Skotomen bzw. Gesichtsfelddefekte bewirken können.
Ursachen für Einschränkungen des Gesichtsfeldes sind laut der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin und verschiedenen ophthalmologischen Institutionen in der Schweiz folgende:
- Netzhauterkrankungen:
- Altersbedingte Makuladegeneration (AMD)
- diabetische Retinopathie
- Retinitis pigmentosa und weitere seltene Netzhauterkrankungen
- Netzhautablösung (Amotio)
- Makulaforamen (kleine Lücken in der Netzhaut)
- Gefässverschlüsse in der Netzhaut
- Durchblutungsstörungen und/oder Entzündungen des Sehnervs (Optikusneuropathie)
- Grüner Star (Glaukom): zu hoher Augendruck schädigt die Netzhaut und/oder den Sehnerv
- Tumoren des Auges
- Hirnverletzungen (Hirnschlag, Schädelhirntrauma, Hirntumor)
- Migräne mit Aura, Netzhaut-Migräne
- Grauer Star (Katarakt) als indirekte Ursache: zunehmende Eintrübung der Linse führt zu verschiedenen Sehproblemen, die u.a. auch mit Gesichtsfeldeinschränkungen vergleichbar sind.
Die BfU stellte 2012 fest, dass Unfälle älterer Autofahrerinnen und Autofahrer in der Schweiz 13 Prozent des gesamten tödlichen Unfallgeschehens ausmachten. Davon betraf die Hälfte der Getöteten die älteren LenkerInnen selber.
Weil aufgrund der demografischen Entwicklung die Anzahl der Seniorinnen und Senioren weiter steigt, zitiert die BfU eine Studie, die ein eher beunruhigendes Szenario für das Jahr 2035 vorsieht: Die Unfallzahl von autofahrenden RentnerInnen wird sich verdoppeln oder sogar verdreifachen.
Keine Einschränkungen am Lenkrad zulässig
Was also tun, wenn der Verdacht auf einen Defekt des Gesichtsfeldes besteht? Dann ist ein Gang zum Augenarzt ratsam. Dieser führt eine Messung des Gesichtsfeldes (Perimetrie) durch: Die zu untersuchende Person fixiert mit dem Blick einen Punkt auf einem Bildschirm und gibt gleichzeitig an, ob und wann sie die aufscheinenden Lichtpunkte im Gesichtsfeld wahrnimmt, die spontan auf dem Bildschirm erscheinen.
Je nach Verfahren werden dabei nicht nur die Aussengrenzen des Gesichtsfeldes überprüft. Notwendig ist auch die Kontrolle des zentralen Gesichtsfeldbereiches, der sich für den Strassenverkehr als ebenso wichtig erweist.
Wie stark ein bestimmter Ausfall des Gesichtsfeldes beim Autofahren ins Gewicht fällt, kann aber häufig nur von Experten beurteilt werden. Denn die Grösse, Lage und der Schweregrad des konkreten Defektes beeinflussen das Unfallrisiko auf ganz unterschiedliche Weise.
Einheitlich sind hingegen die Anforderungen, was die Funktion des Gesichtsfeldes im Strassenverkehr betrifft. Laut dem Bundesamt für Verkehr (BAV) gelten seit Juli 2016 die nachfolgenden medizinischen Mindeststandards:
- absolutes Minimum: Gilt für LenkerInnen von Personenwagen, Motorrädern, Motorfahrzeugen mit reduzierter Höchstgeschwindigkeit, Traktoren sowie Fahrrädern mit Motor:
- Gesichtsfeld beidäugig horizontal mindestens 120 Grad
- Erweiterung seitlich vom Zentrum aus mindestens 50 Grad
- Erweiterung oben/unten mindestens 20 Grad
- zentrales Gesichtsfeld bis 20 Grad normal
- Beim Lenken von Bussen, Lastwagen und Taxis gelten um etwa 20 Grad höhere Minimalanforderungen.
- Das BAV hält unmissverständlich fest, dass diese Mindestwerte nicht unterschritten werden können. Es dürfen also keine Einschränkungen des Gesichtsfeldes gemäss den erwähnten Richtlinien vorhanden sein, wenn man Autofahren will.
Schliesslich ist auch zu vermerken, dass der Bund 2016 die Mindestanforderungen für die Sehschärfe angepasst hat:
- Sehschärfe Ferne: absolutes Minimum ab 35 Jahren mindestens 0.5, schlechteres Auge 0.3
- Minimalanforderungen Fern-Visus, einzeln gemessen: minimal 0,5/0,2
- Einäugiges Sehen: (inkl. Sehschärfe des schlechteren Auges <0,2), minimal 0,6
Lichtverhältnisse sind auch ein Problem
Zu den Gesichtsfeld-Defiziten gesellt sich noch ein weiterer erschwerender Umstand beim Autofahren: Menschen mit einer Netzhautdegeneration wissen oft nicht, was sie nicht sehen. Auch merken sie nicht, dass die Hell-dunkel-Anpassung stark verlangsamt ist.
Das bedeutet, dass sie nach der Einfahrt in einen Tunnel praktisch blind sind. Kommen sie aus dem Tunnel heraus, sind sie stark geblendet. Dies gilt natürlich auch für Situationen mit ständig wechselnden Lichtverhältnissen.
Die Anpassung an diese sich verändernden Lichtverhältnisse dauert bei Menschen mit einer Netzhautdegeneration viel länger als bei gesunden Personen. Entsprechend sollten sie bei der vorgängigen Planung einer Fahrt passende Massnahmen ergreifen, zum Beispiel die Präsenz einer Begleitperson, die beim Fahren einspringen kann.
Links
Biermann-Medizin, ophthalmologische Nachrichten (2023): Autofahren: Wie viel Sehkraftverlust ist zu viel? – Biermann Medizin (biermann-medizin.de)
Bfu (2016): https://www.kssg.ch/system/files/media_document/2017-08/Gefahr%20im%20Strassenverkehr.pdf
Verordnung Mindestanforderungen im Strassenverkehr: https://www.fedlex.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/dl/proj/6012/112/cons_1/doc_3/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-dl-proj-6012-112-cons_1-doc_3-de-pdf-a.pdf
Ursachen für Skotome: https://www.netdoktor.ch/symptome/skotom/; https://www.augenaerzte-wallisellen.ch/visuelle-phaenomene/; https://www.luks.ch/was-wir-behandeln/gruener-star; https://www.augenaerzte-zuerich.ch/retinale-migraene-netzhautmigraene/;
Katarakt und Gesichtsfeldverlust (Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 2008): https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/s-2008-1057963