Mein Name ist Lars Stötzel, und ich möchte euch meine Geschichte erzählen. Nach etwa 25 Jahren als Koch konnte ich diesen Beruf nicht mehr ausüben. Das lag am Morbus Stargardt, der bei mir in der Jugend entdeckt wurde.
Ich stand Ende 2017 am Rande einer Erschöpfungsdepression, die meine Frau rechtzeitig erkannte. Sie zog die Notbremse und informierte sich über Möglichkeiten, Hilfe zu bekommen. Ich selber habe solch einen Schritt nie in Betracht gezogen. Für mich hiess es immer: «Du musst funktionieren und arbeiten, damit du deine Familie ernähren kannst».
Ziemlich schnell bekam ich einen Termin bei der Fachstelle für Sehbehinderung Zentralschweiz (FSZ) in Luzern, wo ich in ungläubige Gesichter schaute. «Wie haben sie das so lange durchhalten können?», hörte ich dort immer wieder. Denn es stellte sich heraus, dass ich doch nicht so gut sah, wie ich annahm. Zu jenem Zeitpunkt war ich schon mindestens 20 Jahre nicht mehr beim Augenarzt gewesen.
Angst vor der unbekannten Zukunft
Als erstes wurde die Hilflosenentschädigung beantragt. Da ich schon seit 2003 in der Schweiz bin und immer zu hundert Prozent arbeitete, hatte ich entgegen den Aussagen von Bekannten sehr wohl Anrecht auf Hilfe. Ich konnte sogar die Hilflosenentschädigung rückwirkend geltend machen.
Natürlich hatte ich grosse Angst vor der unbekannten Zukunft. Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. «Ich habe eine Familie mit zwei Kindern und hocke zu Hause – soll das die Erfüllung meines Lebens sein?», fragte ich mich. Nein, definitiv nicht.
Dann kam die SIBU ins Spiel, die in Basel angesiedelte Schweizerische Fachstelle für Sehbehinderte im beruflichen Umfeld. Dort lernte ich Hilfsmittel und Techniken kennen, von denen ich nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Die Informatik war zwar mein Hobby, aber von Jaws oder Fusion hatte ich noch nie gehört. Ich erlernte also das komplette Programm (10-Finger-System, Jaws, Punktschrift, LaTex etc.).
Aber die Hilfsmittel waren nicht das Wichtigste oder Wertvollste, was ich bei der SIBU kennenlernen durfte. Es waren die anderen Klienten*innen und Dozent*innen, die mir die Angst nahmen. Das Schwierige war allerings, dass ich in dieser Zeit Montag bis Freitag in Basel verbrachte und meine Familie in Luzern wohnte. Dies ging 15 Monate so.
Wieder die Schulbank drücken
Ich strebte eine Ausbildung zum Informatiker mit Fachrichtung Applikationsentwicklung an. Weil das viel Zeit an Vorbereitung verlangte, durfte ich so lange an der SIBU verweilen. Nun galt es noch, eine geeignete Schule zu finden. Meine Ausbildungskoordinatorin half mir tatkräftig dabei, und nach einigen Recherchen hatten wir eine Handvoll Schulen zur Auswahl, alle nicht in Luzern.
Wirklich sensibilisiert für Menschen mit Sehbehinderung war keine der Schulen. In einer bekam ich sogar folgenden Spruch zu hören: «Ich trage ja auch eine Brille.» Das ist wohl dasselbe, wie wenn ich zu einem Migränepatienten sagen würde, ich hätte auch ab und zu ein wenig Kopfweh.
Die einzige Schule, die am Ende in Frage kam, war die in Basel. Sie hatte auch den Vorteil, dass ich in der gewohnten Unterkunft bleiben konnte, und ich war in der Nähe der SIBU. Im August 2019 sollte es losgehen, und ich war extrem aufgeregt, denn es war eine «normale» EFZ-Klasse. Das heisst, ich war als 42-Jähriger unter Jugendlichen, die locker meine Kinder sein konnten.
Und wie reagierten diese Jungen auf mich? Meine Mitschüler waren sehr interessiert an meiner etwas speziellen Lebensgeschichte, fragten mich aus und wollten einfach alles wissen. Sie waren alle auch sehr hilfsbereit, wenn es um Visuelles wie Grafiken oder Diagramme ging. Einige Dozent*innen musste ich allerdings noch etwas «erziehen».
Langwierige Suche einer Lehrstelle – dann der Glücksfall
Ab dem 3. Semester begann die Suche nach einer Lehrstelle, im Sinne eines Praktikums. Nun bekam ich eigentlich das erste Mal zu spüren, wie es ist, sich als beeinträchtigter Mensch zu bewerben und wie gross die Angst der Arbeitgeber ist. An den Noten lag es sicher nicht, ich hatte einen Schnitt von 5.7. Ich bekam immer halbherzige Antworten, so zum Beispiel, dass gerade keine Lehrlinge benötigt würden und Ähnliches. Ich schrieb 45 Bewerbungen und bekam bloss 12 Antworten.
Es ergab sich nur ein Vorstellungsgespräch – aber dieses führte zu einer Anstellung. Die Firma, wo ich mein obligatorisches zweijähriges Praktikum absolvieren durfte, ist glücklicherweise in der Nähe meiner Wohnung. Nun war ich wieder jeden Tag zu Hause bei meiner Familie.
Ich hatte einen sehr toleranten Chef, der sich zur Aufgabe machte, mich ordentlich auszubilden, obwohl er noch nie mit einem sehbeeinträchtigten Menschen gearbeitet hatte. Er setzte mich hauptsächlich im Backend-Bereich ein, und ich konnte in meinem Tempo ohne Druck arbeiten. Ihm war bewusst, dass ich aufgrund meines Handicaps etwas weniger effizient bin.
Alles in allem habe ich mich dort sehr wohl gefühlt. Ich bekam von jeder Seite Hilfe, wenn ich sie benötigte. Schliesslich rückte der Tag der sogenannten praktischen Abschlussarbeit immer näher, und ich wurde immer nervöser. Ich konnte aber mit meinem Ausbildner die Prüfungsaufgabe besprechen und ausarbeiten, sodass ich einen auf mich zugeschnittenen Auftrag bekam.
Zudem erhielt ich von der Lehrlingsaufsicht Basel einen hundertprozentigen Nachteilsausgleich. Ich hatte nämlich mit der Schulleitung einen solchen Ausgleich vereinbart. Aber dies brauchte viel Überzeugungsarbeit von mir, von Seiten des Ausbilders und der IV.
Nach Absagen wieder Glück gehabt
Die praktische Abschlussarbeit konnte ich erfolgreich absolvieren. Nun bin ich Informatiker. Das alles hätte ich ohne den Rückhalt meiner Familie (zu den zwei Kindern ist noch eines dazugekommen) und der vielen Menschen, die mich unterstützten, nicht geschafft.
Danach begann wieder die Stellensuche, und es zeigte sich das altbekannte Problem. Ich bewarb mich auf etwa 30 Stellen, deren Beschrieb ich zuvor ganz genau studiert hatte. Ich bekam dieses Mal immer eine Antwort, aber leider durchweg eine ablehnende, mit den üblichen ausweichenden Begründungen.
Dann schaute ich auf die Webseite von Access for all. Dort stand, dass man eine Ausbildung zum Accessibility Consultant mit den Zertifikaten der IAAP absolvieren kann. Ich rief sofort in Zürich an und vereinbarte einen Termin. Mir war bewusst, dass diese Ausbildung nur ein 40-Prozent-Pensum abdeckt. Aber ich dachte mir, so könnte ich mich weiterbilden.
Im Vorstellungsgespräch kristallisierte sich dann heraus, dass man mir die Möglichkeit geben wollte, mich für weitere 60 Prozent zusätzlich zur Ausbildung zu beschäftigen. Jackpot würde ich sagen! Nun starte ich im Oktober bei der Access for all – und bin überglücklich.