1,8 Millionen Menschen stossen auf Barrieren

Wie bitte? Menschen mit einer Behinderung machen 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung aus? Ja, das stimmt – diese Tatsache ist leider nur wenigen bekannt. Aber die 44 Personen, die an einer körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigung leiden und am 24. März 2023 an der ersten Behindertensession im Bundeshaus teilgenommen haben, riefen es der Öffentlichkeit gehörig in Erinnerung.

Autor: Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse

Das Wort, das an diesem Tag im Nationalratssaal am häufigsten fiel, ist «Barrierefreiheit». Diese ist konsequent zu gewährleisten, besagt das 2004 in Kraft getretene Behindertengleichstellungsgesetz. Doch um die Barrierefreiheit sei es immer noch schlecht bestellt, lautete der Tenor an der Behindertensession.

Wer denkt zum Beispiel schon daran, dass sehr niedrige Trottoirs für Sehbehinderte zum Verwirrspiel werden? Die Kantone wissen es, erhöhen aber die Trottoirhöhe trotzdem kaum je auf drei Zentimeter, wo es nötig wäre. Auch genügend hohe Haltekanten an den Busstationen scheinen noch zu oft ein Problem zu sein, und zwar aus finanziellen Gründen. Dabei dienen gerade die Haltekanten auch vielen anderen Personen, die mit schweren Koffern, Kinderwagen oder einem Gipsbein unterwegs sind.

Auf Barrieren stossen Sehbehinderte auch bei Videos und Infomaterial. Selbst wenn es sich um amtliche Stellen oder öffentliche Dienstleister handelt, fehlen noch zu oft Begleittexte auf digitaler Ebene – dabei macht gerade die heutige Technologie diese Massnahmen zu einem Kinderspiel.

Bloss nicht aufgeben bei der Jobsuche

Doch damit längst nicht genug. Die vielfältigen Hindernisse, auf welche Menschen mit einer Behinderung stossen, bekommen in bestimmten Situationen einen demütigenden Beigeschmack. Nämlich wenn es um die sogenannte Inklusion geht: um Gleichbehandlung, Miteinbezug und faire Chancen.

Etliche Menschen gehen Behinderten aus dem Weg oder ignorieren sie, meist aus Unsicherheit. Und viele Arbeitgeber sind zu wenig mutig, um für Behinderte Arbeitsplätze zu schaffen. Oder die Voraussetzungen für Barrierefreiheit zu schaffen, um dann Menschen mit einem Handicap anstellen zu können.

Hier sei das Statement der sehbehinderten Marianne Plüss zitiert, die an der Session teilnahm: Behinderte müssten selbst aktiv werden und bloss nie aufgeben – bei ihr habe es fünf Jahre gedauert, bis sie einen Job gefunden habe, aber nun habe sie einen.

Selbständig abstimmen und wählen

Damit ist die Liste der demütigenden Hindernisse noch lange nicht zu Ende. Sehbehinderte Menschen können unter anderem nicht selbständig abstimmen und wählen. Denn die betreffenden Unterlagen sind in unserer so stark digitalisierten Zeit immer noch nicht komplett hindernisfrei. Ein Beispiel: Entsprechende Lösungen auf Bundesebene gibt es nur für Abstimmungen; bei allen anderen Prozedere muss jemand helfend eingreifen. So bleibt die politische Privacy weiterhin voller Risse und Spalten.

Ein anderes, peinliches Beispiel: Ein gehbehinderter Parlamentarier wies mit deutlichen Worten darauf hin, dass das nationale Parlament für die Behindertensession zwar die Simultanübersetzung in die anderen Nationalsprachen organisierte und finanzierte – aber nicht das genauso wichtige Gebärdendolmetschen. In dieser Hinsicht sei die Schweiz ein Entwicklungsland, erklärte Behindertenparlamentarier Alex Oberholzer aus Zürich.

Bleiben wir weiter bei der Politik. Was ist mit dem Recht, gewählt zu werden? Menschen mit Behinderungen haben zu wenig Vertreterinnen und Vertreter in allen politischen Gremien. Der Grund? Eine distanzierte Haltung gegenüber diesen Menschen. Und das Fehlen von Barrierefreiheit und von Assistenzleistungen an den Orten des Politisierens.

Menschen mit Behinderung haben politisches Gewicht

Daher ist die fundamentale Forderung der Behindertensession völlig nachvollziehbar: Inklusion auf allen Ebenen. Die Öffentlichkeit sollte dies sehr ernst nehmen, denn jede und jeder von den sogenannt «Normalen» kann plötzlich behindert werden, durch Unfall oder Krankheit. Niemand ist davor gefeit.

Das Behindertsein ins Bewusstsein der Menschen zu tragen – das ist denn auch eine der Absichten von Nationalratspräsident Martin Candinas und Pro Infirmis, die zusammen die erste Behindertensession auf die Beine gestellt haben. Weitere solche Sessionen sollen und werden folgen.

Und noch einmal etwas zur Politik: Die rund 1,8 Millionen Menschen mit Behinderung in der Schweiz sind ein Pool von Wählerinnen und Wählern, der nicht zu unterschätzen ist. Diese Menschen werden sogar zum Machtpool, wenn sie sich konsequent zusammenschliessen.

Schliesslich und endlich geht es um das Recht auf Gleichbehandlung. Das ist nicht zu viel verlangt.

Die Resolution

In ihrer verabschiedeten Resolution fordern die Teilnehmenden der ersten Behindrtensession die Politik, Behörden und Zivilgesellschaft auf, die politische Vertretung von Menschen mit Behinderung zu verbessern und den Weg zu politischen Ämtern barrierefrei zu gestalten.

Zur Resolution

Video-Interview mit dem Höchsten Schweizer

Nationalratspräsident Martin Candinas, Mitinitator der Behindertensession, sagt ganz klar: “Die politische Teilhabe der Behinderten ist heute noch zu wenig möglich.”

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