Das Leben der Familie Dürmüller (Teil 2): die berufliche Situation

Trotz Sehbehinderung ein gutes Leben führen – wie geht das? Die Dürmüllers aus St. Gallen berichten offen über ihr alltägliches Zusammenleben mit dem Vater, der eine schwere degenerative Augenerkrankung hat. Im zweiten Teil dieser Mini-Serie wird geschildert, wie sich die Sehbehinderung beruflich auswirkt.

Jean Seiler, jean.seiler@retina.ch

Das Beispiel der sympathischen Familie Dürmüller zeigt, dass die zusätzlichen Hürden wegen der Sehbehinderung ihres Papis nicht einfach zu bewältigen sind. Allen Beteiligten wird viel Verständnis und Entgegenkommen abverlangt, und manchmal müssen auch persönliche Wünsche zurückgesteckt werden. Bei einer Familie mit drei Kindern spielt das Einkommen eine zentrale Rolle, aber nicht nur: Die Erwerbstätigkeit wirft Licht und Schatten auf die Familie.

Der Familienvater Hampi (Hanspeter), heute über 45-Jährig, erhielt die Diagnose Retinitis Pigmentosa (RP) bereits mit 18 Jahren. Schon lange hat Hampi gespürt, dass er aufgrund seiner Sehbehinderung nicht mehr gemäss seinen Kompetenzen arbeiten kann. Er benötigt oft mehr Energie und Zeit für die Ausführung der Arbeit und ist deshalb nach der Arbeit erschöpft. Dies hat einen Einfluss auf die Pflichten und Möglichkeiten im Privatleben.

Existenzängste

Dazu haben Menschen in solchen Situationen meist auch Existenzängste. Es steigt die Sorge hoch, das bisherige Leben zu verlieren, ein Leben, das sie sich hart erarbeitet haben. Es entsteht die Angst, in der eigenen Existenz von aussen abhängig zu werden, der Familie nicht mehr zu genügen, sich als Versager vorzukommen.

Im Weiteren werden auch persönliche Neigungen und Ansichten sowie Wertvorstellungen hinterfragt. Was ist mir in meiner Situation wirklich wichtig? Worauf muss ich mich konzentrieren? Ist dies alles im Einklang mit den Bedürfnissen meiner Familie? Kann ich als Vater verlangen, dass die Familie in gewissen Bereichen Abstriche macht? Und, und, und! In diese Spirale wollte Hampi nie kommen, weshalb er alles unternahm, um im Job bleiben zu können.

Hampis Arbeitssituation

Zurzeit arbeitet Hampi bei einer bekannten Firma für Baumaterialhandel. «Ich habe vom Frontoffice zum Backoffice gewechselt. Die direkte Kundentätigkeit mit Beratungen und Material herausgeben, diese Tätigkeiten konnte ich nicht mehr ausüben, denn ich konnte mir keine Notizen mehr machen, und teilweise habe ich die Kunden nicht mehr gesehen. Ich konnte nicht mehr feststellen, dass Personen am Schalter gewartet haben. So musste ich in den hinteren Bereich wechseln, ohne Kundenkontakt, das heisst nur noch PC und Telefon», erzählt Hampi.

«Es ist eine andere Arbeitssituation entstanden. Ich muss mich viel mehr kontrollieren, und das braucht Zeit. Ich kann mir selbst nicht mehr vertrauen. So habe ich letzthin eine Offerte vier Mal durchgerechnet, und beim vierten Durchgang hatte ich tatsächlich festgestellt, dass ich eine Position vergessen hatte. Also musste ich noch ein fünftes Mal drübergehen. Das ist anstrengend und sehr zeitintensiv!»

«Ich habe jetzt das Hilfsprogramm “Fusion for Windows”, aber leider verlangsamt es das Betriebsprogramm der Firma extrem. Und am Telefon mit den Kunden ist es nicht zu gebrauchen. Einerseits wurde mit dem Hilfsmittel ein Teil der Hindernisse überwunden, andererseits wurden leider auch neue Hindernisse geschaffen. Hier muss noch nach Lösungen gesucht werden. Ich muss lernen, mit Kurztastenbefehlen zu arbeiten, was sehr lernintensiv ist. Ich muss das ganze Programm im Kopf haben: Ich muss mir sagen, ‘mit drei Klicks bin ich da’, sonst habe ich keine Chance.»

Man muss an sich arbeiten

Hanspeter ist sich nicht ganz sicher, was seine Arbeitskollegen von ihm denken. «Im Weiteren habe ich den Eindruck, dass ich nur noch wie bemuttert oder irgendwie vernachlässigt werde, oder anders gesagt, ich bin nur noch zweitrangig bin. ‘Er sieht es ja eh nicht mehr so gut, also müssen wir nicht mehr schauen.’ Ich bin teilweise nicht mehr so mit dabei, quasi in die Richtung sozialer Abstieg. Das schürt auch die Angst, wie es wird, wenn ich dereinst nichts mehr sehe. Hier muss ich an mir arbeiten.» Das tut Hampi und bemüht und engagiert sich mit aller Kraft.

«Zurzeit habe ich noch hundert Prozent Pensum. Auf die Dauer wird dies zu viel sein. Eine Reduktion ist absehbar. Ich muss alles geben, damit ich noch einigermassen mithalten kann und fehlerfrei arbeite. Ich merke es vor allem nach Feierabend. Und da warten drei Kinder! Es ist anspruchsvoll zur Ruhe zu kommen. Um acht Uhr abends schlafe ich ein, so fertig bin ich.»

Hier hat dann seine Frau Nadia ein Problem. Es sei frustrierend, wenn um acht Uhr abends nichts mehr laufe. Wenn die Kinder später ins Bett gingen als der Vater, dann sei dies schon speziell! Krass sei es an dem Abend, wenn Nadia ins Turnen gehe. Dem Papi würden langsam die Läden runtergehen und die Kinder sagen: «Pscht, Papi schläft jetzt gleich, so können wir ganz ruhig fernsehen.» Dann sei es ganz still, damit Papi ja nichts merke. Um halb zehn komme Mami nach Hause und sei ganz überrascht, dass die Kinder noch nicht im Bett seien. So hätten die Kinder quasi so ihre Vorteile…

Was beschäftigt Hampi als Familienvater am meisten?

Im Thema Job geht es nicht bloss um die Arbeit. Es sind auch Ängste, Existenzängste vorhanden. Wie steht es mit dem künftigen Einkommen? Wie viel kann er sich noch zumuten? «Ich will doch meine Familie nicht verheizen, das ist meine Hauptsorge. Die Familie ist mein engstes Umfeld. Mit verheizen meine ich, dass es zu Unstimmigkeiten kommt, Gräben entstehen. Ohne Job kann man in der Schweiz leben, aber ohne Familie, da hätte ich mehr Mühe!»

«Deshalb bin ich jetzt in der Entscheidung, ob ich auf ein 50-Prozent-Pensum reduzieren sollte. Jetzt im 100-Prozent-Job muss ich einiges darüber hinaus leisten, um auf die 100 Prozent Leistung zu kommen. Andrerseits kommen auch Fragen in der Richtung auf: Jetzt sehe ich noch etwas, irgendwann ist bei mir wahrscheinlich fertig.» Hampi weiss aber auch, mit einer Rente wird das Einkommen massiv kleiner.

Die Familie macht mit

Deshalb sagt Nadia, habe sie wieder angefangen zu arbeiten. Sie arbeitet als Klassenassistentin und absolviert zurzeit eine Weiterbildung, um die Arbeit interessanter zu gestalten und natürlich auch künftig etwas mehr zu verdienen. Das sind so Entscheidungen, die man als Paar diskutieren, planen und dann umsetzen muss. So können künftige Ausfälle an Einkommen seitens Hampi aufgefangen werden. Das führt auch zu einer Art Teambildung und kittet die Partnerschaft. « Ich bin sehr erleichtert», sagt Hampi, «dass Nadia am gleichen Strang zieht!»

Glücklicherweise wohnen die Eltern von Nadia im gleichen Haus, wodurch eine Kinderbetreuung gewährleistet ist. Andererseits werden die Kinder immer mehr selbständig, so dass dieser Schritt jetzt gut geht. Sie ist glücklich, im Schulsystem zu arbeiten, weil ihre Schul- und Ferienzeiten die gleichen sind wie bei den Kindern. Sie bekundet grosse Wertschätzung für diese optimale Lösung. Aber dafür haben die Dürmüllers hart dafür gearbeitet. Die Situation war vor kurzem anders. Hampi kam von der Arbeit völlig aufgekratzt nach Hause, weil er total am Anschlag war.

Die enorme Belastung und ihre Wirkung

«Manchmal liegt es ja dann auch an mir», sagt Nadia, weil sie in dem Moment nicht weiterdenke und zu wenig Verständnis aufbringe. «Hampi kommt mittags nicht zum Essen und abends ist nichts mehr los. Also sieht man sich durch die Woche somit kaum, es sind keine Gespräche möglich und schon gar keine Freizeit.»

«Wie gesagt, es kann nicht sein, dass der Papi vor den Kindern ins Bett geht. Deshalb ist der Zeitpunkt gekommen, das Arbeitspensum kritisch zu beurteilen und nach Lösungen zu suchen. Wie gesagt, die Familie kommt bei uns zuerst», sagt Nadia weiter. Glücklicherweise stehen die Kinder voll hinter den Eltern und finden, sie würden es gut machen. Sie sind mit der Sehsituation des Vaters aufgewachsen und kennen nichts anderes.

Fortsetzung folgt.

Hinweis:

Neuer Schlüsselbund: Schlüssel passt oder passt nicht

Zu diesem Thema präsentieren Hanspeter und Nadia Dürmüller ihre Gedanken – dies im Rahmen der GV von Retina Suisse, die am Samstag, 27.April 2024, in Bern stattfindet.

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