Wie stark sind Paare bei einer Augenerkrankung unter Druck?

Die wissenschaftliche Studie «Selody» beschäftigt sich mit der Frage, wie Sehbehinderungen eine Paarbeziehung beeinflussen. Daraus ergibt sich auch eine Reihe praktischer Ratschläge, die in zwei separaten Broschüren nachzulesen sind.

Jean Seiler, jean.seiler@retina.ch

Um einige Gedanken zur Studie «Selody» (Universität Zürich im Auftrag von SZBlind, 2022) kundzutun, setze ich mir drei verschiedene Hüte auf: Als Selbstbetroffener von Retinitis pigmentosa (RP), als Partner in einer Paarbeziehung und Familienvater, und als Fachperson in der Eigenschaft als diplomierter Sozialarbeiter.

Als Selbstbetroffener habe ich am eigenen Leib erfahren, dass die Sehbehinderung nicht nur mich selbst, sondern auch das nähere Umfeld betrifft. Mit meiner Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens stand ich mir lange selbst im Weg. Meinem Umfeld habe ich es daher nicht im­mer leicht gemacht. In diesem langen Prozess ist mir klar geworden, dass dieses nahe Umfeld die wichtigste Ressource darstellt, um damit im Zusammenhang stehende Krisen zu bewältigen.

Daher habe ich mich in der Broschüre «Beziehungen unter Druck? – Sehbehinderung und Paarbeziehung», die über die wissenschaftliche Selody-Studie publiziert wurde, hinsichtlich der Frage, wie eine Sehbehinderung die Paarbeziehung beeinflusst, wiedergefunden. Damit habe ich aus der Sicht meines ersten Hutes gesprochen, den ich trage.

Die Identität als Paar steht auf dem Spiel

Mit meinem zweiten Hut kann ich nur bestätigen, dass Paarbeziehungen unter einer Sehbeeinträchtigung leiden können. Es kann aber auch, wie in meinem Fall, die Beziehung stärken und enger zusammenschweissen.

Eine wunderbare Hilfe ist die nun vorliegende Broschüre von SZBlind «Ihre Beziehung unter Druck? Ratgeber für Paare im Umgang mit Sehverlust». Offen wird darin über die Schwierigkeiten berichtet, wenn bei einem Teil in einer Paarbeziehung eine Seheinschränkung auftritt. Eingespielte Rollen verändern sich, die Identität als Paar steht auf dem Spiel. Eindrücklich werden Empfehlungen für das Zusammenleben geschildert. Gewohnheiten ändern sich und neue Strategien müssen erarbeitet werden.

Im Speziellen sind mir zwei Sätze aufgefallen: «Nehmen Sie als Paar die Sehbeeinträchtigung und ihre Auswirkungen auf den Alltag an. Sie beide haben keine Schuld an der Sehbeeinträchtigung, und Sie können es auch nicht ändern». Dann folgt der Hinweis, dass es von grossem Nutzen sein kann, sich mit anderen Paaren auszutauschen und sich ein Paar nicht scheuen sollte, gegebenenfalls professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen.

In der Beratung aufholen

Das bringt mich zu einem nachdenklichen Punkt, meinem dritten Hut, dem fachlich geprägten. Die Bewältigung einer Sehbeeinträchtigung ist für ein Paar eine Herkulesaufgabe. Ganze Lebenspläne können durchgeschüttelt werden. Vor allem fortschreitende Sehveränderungen, die ständig neue Anpassungen an verändernde Lebenssituationen generieren, sind für Betroffene äusserst herausfordernd.

Es ist naheliegend, dass sich ein Paar kommunikativ nicht immer optimal versteht. Daher kann ein Unterstützungs- und Beratungsangebot notwendig sein. Im Forschungsbericht «Beziehungen unter Druck? Sehbehinderung und Paarbeziehung» werden an die Adresse der Organisationen und Fachpersonen hilfreiche Anregungen gegeben. Aus meiner langjährigen sozialarbeiterischen Tätigkeit in der Beratung im Sehbehindertenbereich weiss ich, dass es hier noch einiges aufzuholen gilt.

Eine der Baustellen ist die in der Selody-Studie erwähnte Vernetzung. Diese kann zu gegenseitiger Verständigung und zu Kooperationen führen. Eine engere Zusammenarbeit im Sehbehindertenwesen – statt institutioneller Verzettelungen in themenfremde Disziplinen – wären ein Gewinn für Menschen mit einer Sehbehinderung.

Psychologisches Fachpersonal ist rar

Es wurde auch erwähnt, dass es im psychologischen Bereich an Fachpersonal fehlt, welches Erfahrung in der Beratung von Menschen mit einer Seh- oder Hörsehbeeinträchtigung und deren Partner/innen hat. Es ist offenbar nicht einfach, psychologisches Fachpersonal zu finden und in der Thematik Sehbehinderung zu schulen.

Hier könnte vielleicht darüber nachgedacht werden, diplomierte Sozialarbeiter*innen obligatorisch zu Weiterbildungen in psychosozialen Lehrgängen zu schicken, wie sie zum Beispiel die Fachhochschule Nordwestschweiz anbietet. Damit könnte mit Fachpersonen, die aus ihrer Tätigkeit bereits ein umfangreiches Wissen über Sehbehinderungen verfügen, viel abgefedert werden.

Sehr wertvoll in der Selody-Publikation ist der Beitrag von Vincent Ducommun, einem der wenigen mit Ausbildung in Psychologie, Psychotherapie und Sehbehindertenerfahrung. Er schreibt über Sinnesbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen auf die Psyche. Mit einigen kurz geschilderten Aspekten zu den Auseinandersetzungen mit einer Sehbeeinträchtigung erhalten die Lesenden einen kleinen Einblick, wie wertvoll eine psychologische Begleitung sein kann.

«Abschliessend», so Ducommun, «lässt sich sagen, dass die direkt betroffene Person zwar selbst lernen muss, mit ihrer Beeinträchtigung umzugehen, sich ihr Partner oder ihre Partnerin jedoch ebenfalls mit der Situation auseinandersetzen muss.»

Eine spannende Pflichtlektüre

Diese beiden erwähnten beim SZBlind erschienen Schriften sollte jedem Paar, das mit Sehbeeinträchtigung konfrontiert ist, Pflichtlektüre sein, weil darin wahre Schätze von Informationen, Aha-Erlebnissen, Tipps und vieles Mehr zu finden sind.

Mehr Infos zur Selody-Studie finden Sie hier.

Die Broschüre zur Selody-Studie: «Beziehungen unter Druck? – Sehbehinderung und Paarbeziehung» sowie der SZBlind-Ratgeber «Ihre Beziehung unter Druck? Ratgeber für Paare im Umgang mit Sehverlust» sind erhältlich bei:

SZBlind, Schweizerischer Zentralverein für das Blindenwesen

Schützengasse 4, 9001 St. Gallen, 071 223 36 36, information@szblind.ch

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