Einige Augenerkrankungen werden durch ein defektes Gen ausgelöst. Bei anderen können die Gene eine Ursache unter verschiedenen sein. Ist also eine Genuntersuchung sinnvoll, und wie ist der Stand der Dinge im Hinblick auf Gentherapien? Retina Suisse hat zu diesen Aspekten Ende September einen Info-Event im Genfer Universitätsspital HUG durchgeführt und zwei Spezialistinnen interviewt: Prof. Dr. Gabriele Thumann, Chefärztin der Ophthalmologie des HUG, sowie Dr. Martina Kropp, Forscherin am HUG im Bereich der ophthalmologischen Genetik.
Interview: Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch
Beim Stichwort «Genetik» denkt der Laie vielleicht zuerst an geheimnisvolle Experimente mit Genmaterial oder an seltene Krankheiten. Stimmen diese Klischees?
Prof. Dr. Gabriele Thumann: Zum Begriff «Genetik» gehört der Ausdruck «Genom». Damit ist der Bauplan des menschlichen Körpers gemeint. Viele Erkrankungen sind durch diesen Bauplan den Patient*innen in die Wiege gelegt, also wird sehr viel Forschung betrieben, um das Genom zu verstehen. Dadurch kann man die jeweilige Krankheit verstehen und mögliche innovative Therapien entwickeln.
Viele Krankheiten sind also auf Fehler im Bauplan zurückzuführen.
GT: Präziser gesagt, auf einzelne beschädigte Gene. Und weil die Forschung in jüngster Zeit allmählich so weit kommt, nach und nach einige defekte Gene positiv verändern zu können, ergeben sich für die Zukunft neue Behandlungsmöglichkeiten.
Wie häufig kommt die Genetik in der Augenheilkunde zum Einsatz?
GT: Die Augen sind für den Menschen extrem wichtig. 80 Prozent der Informationen, die das Gehirn aufnimmt, sind optische Eindrücke. Diese werden durch die Netzhaut aufgenommen, vorverarbeitet und dann an das Gehirn weitergeleitet. Über das Gehör sind es nur 10 Prozent. Nun setzt sich die Netzhaut aus Abermillionen von Sehzellen zusammen, und dass diese bestens funktionieren und zusammenspielen, ist nicht immer selbstverständlich. Schon mittelschwere Störungen haben massive Auswirkungen auf das Leben der Patient*innen.
Also stehen bei der Genforschung die Augen ziemlich weit oben auf der Liste?
GT: Das kann man so sagen. Ausserdem bevorzugt die Gen-Forschung das Auge auch aus einem weiteren Grund: Es ist mehr oder weniger ein in sich abgeschlossener Raum, der sich relativ einfach handhaben lässt, auch in Bezug auf die mögliche Korrektur eines Gens.
Bei welchen Augenerkrankungen kann man mittels Genuntersuchung die genaue Ursache bestimmen?
GT: Unter anderem bei der RP, der Retinitis pigmentosa mit dem typischen Tunnelblick und Nachtblindheit, und beim damit verbundenen Usher-Syndrom mit den Gehöreinschränkungen. Beides sind Paradebeispiele.
Diese Erkrankungen gelten allgemein als selten. Warum setzt die Genforschung gerade hier gerne an?
Dr. Martina Kropp: Die meisten Krankheiten entstehen durch ein Zusammenspiel von mehreren Fehlern im Bauplan und wegen anderer externer Faktoren. Es gibt nur wenige Erkrankungen, die durch einen einzigen Fehler ausgelöst werden. Diese monogenetischen Erkrankungen sind natürlich jene, die man tendenziell als erste behandeln kann. Sobald man das Gen identifiziert hat, das den jeweiligen Defekt auslöst, kann man damit beginnen, eine ganz gezielte Behandlung in die Wege leiten. Es ist – stark vereinfacht gesagt – wie ein Loch im Zaun, das man erkennt und flickt.
Man flickt also das betreffende Gen.
MK: Ein Gen lässt sich möglicherweise verändern. Aber in keinem Fall kommt es zu einer Modifikation auf eine Weise, dass die Änderung an nachfolgende Generationen vererbt würde. Also nicht so, wie es zum Beispiel im Bereich der Landwirtschaft sowohl bei der Zucht wie auch bei der Nutztier-Gentechnologie der Fall ist. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Eine solche Genveränderung beim Menschen ist denn auch weltweit, in allen Ländern, streng verboten.
Gibt es auch andere Methoden als die «Korrektur» eines defekten Gens?
MK: Man spricht praktisch immer über die korrektive Gentherapie. Dabei gibt es auch die additive Gentherapie: Bei dieser wird nicht ein defektes Gen repariert bzw. ersetzt, sondern man fügt ein «therapeutisches Gen» hinzu. Dieses wirkt dann wie ein sogenanntes Depot-Medikament, das seinen Wirkstoff kontinuierlich über längere Zeit abgibt – im Falle der Gentherapie bestenfalls lebenslang.
Funktioniert das Flicken eines beschädigten Gens in jedem Fall?
GT: Das ist nicht so einfach. Man muss über grosse Datenmengen verfügen können. Und weil bei den meisten Augenerkrankungen eben verschiedene Defekte eine Rolle spielen, hängt die Art einer wirksamen Behandlung immer davon ab, wie gut der Datensatz der Patient*innen ist.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
GT: Zu einem zuverlässigen Datensatz gehören Informationen wie: Eine 70-jährige AMD-Patientin hat gleichzeitig einen Schlaganfall gehabt, oder ein Diabetiker war ein schwerer Raucher und hat sich sein Leben lang ungesund ernährt. Es ist eine banale Einsicht, dass diese Faktoren auch eine grosse Rolle spielen. Also wird die Ursachenrecherche zu einer schwierigen und komplizierten Analyse.
Die Ursachenrecherche ist demnach bei der AMD, der Altersbedingten Makuladegeneration, viel schwieriger als bei der RP.
GT: Die AMD erweist sich als klassisches Beispiel für eine multifaktorielle Erkrankung. Man ist noch nicht so weit, hier etwas mit einer Gentherapie erreichen zu können. Die Mehrzahl der Faktoren liegt eben woanders.
Eine Gentherapie funktioniert also nicht immer. Aber eine Genanalyse könnte durchaus hilfreich sein, gerade bei der Früherkennung nicht nur der RP, sondern auch im Falle einer AMD oder auch eines Grünen Stars. Denn die Forschung hat herausgefunden, dass ungefähr 23 Prozent aller AMD-Fälle sowie Glaukom-Erkrankungen, die in jungem bis sehr jungem Alter auftreten, genetisch bedingt sind.
GT: Es gibt Länder, zum Beispiel die USA, die diesbezüglich Screening-Möglichkeiten anbieten. Man kann feststellen, ob jemand genetische Risikofaktoren für eine Erkrankung in sich trägt. Aber das Ganze kann schnell seinen Sinn verlieren: Zum jetzigen Zeitpunkt trägt es in den meisten Fällen zur Ausarbeitung eines konkreten Therapieangebotes nichts bei. Man screent nicht genetisch auf der Suche nach etwas, das man dann hinterher nicht behandeln kann.
Warum nicht?
GT: Wenn Patient*innen von einem gesundheitlichen Risiko wissen und sich gleichzeitig sagen müssen, man könne nichts oder fast nichts machen, dann werden sie unter Umständen depressiv. Das vermindert die Lebensqualität.
Aber eine Genuntersuchung kann dazu beitragen, das Fortschreiten einer Krankheit oder Schädigung früh zu bremsen?
GT: Regelmässige augenärztliche Kontrollen empfehlen wir sowieso, da braucht es nicht sofort Genuntersuchungen. Eigentlich sollte man schon um das 40. Lebensjahr herum beginnen, regelmässig zu Augenärzt*innen zu gehen. Dann kann man bereits erkennen, ob jemand vielleicht ein Risiko für Grünen Star hat. Auch die Makula, also die Stelle auf der Netzhaut, die für das scharfe Sehen zuständig ist, wird gründlich angeschaut.
Und dann?
GT: Wenn nichts festgestellt wird, dann reicht ein nächster Kontrolltermin in zwei bis drei Jahren aus. Allerdings dürfen die Abstände nicht grösser werden, sonst verpasst man vielleicht die Anfänge einer Erkrankung. Ausserdem sollte man nicht vergessen, dass ein Besuch bei Optiker*innen jenen bei Augenärzt*innen keinesfalls ersetzt.
Eine Genuntersuchung in Bezug auf RP macht also Sinn, im Hinblick auf die AMD jedoch kaum?
GT: Doch, punkto AMD kann man eine Genuntersuchung durchaus machen. Wie erwähnt gibt es etliche Patient*innen, die eine genetische Veranlagung haben. Aber eben: Die Mehrzahl hat keine genetische Disposition oder nur eine schwache. Gerade diese Personen könnten sich bei einem negativ ausfallenden Gentest in falscher Sicherheit wiegen. Sie haben zwar keine familiäre Vorbelastung, sprich genetische Veranlagung, aber das heisst es noch lange nicht, dass sie kein Erkrankungsrisiko haben. Denn das zunehmende Alter oder Rauchen sind auch deutliche Risikofaktoren.
Wird eine genetisch bedingte AMD künftig auch genetisch behandelbar sein?
Martina Kropp: Dazu wird viel geforscht. Je spezifischer die Fehlfunktion ist, also je weniger Ursachen sie hat, umso gezielter kann man die Fehlfunktion selbst behandeln. Der nächste Schritt wäre dann auch im Falle einer genetischen AMD, künftig das Gen selbst zu korrigieren.
In Zusammenarbeit mit dem Inselspital Bern unterhält Retina Suisse eine genetische Datenbank. Und diese sollte dank Gentests, welche Betroffene an sich machen lassen, so rasch wie möglich wachsen. Wie lässt sich der Nutzen für die Betroffenen erklären?
MK: Wenn die Forschung einen neuen Faktor entdeckt, der auf innovative Therapiemöglichkeiten hindeutet und der auf die genetische Prädisposition von in der genetischen Datenbank registrierten Patient*innen zutrifft, dann können diese Personen rasch informiert werden. Dies mit dem Ziel, dass sie möglicherweise an einer neuen klinischen Studie oder einem neuen Therapieversuch teilnehmen können.
Je grösser und zahlreicher die Datensätze sind, desto schneller ergeben sich wohl neue wissenschaftliche Erkenntnisse.
Gabriele Thumann: Das ist logisch. Aber es kommt natürlich auch immer auf die Qualität der Daten an. Man muss immer grossen Wert darauf legen, dass möglichst viele Parameter detailliert erfasst werden. Früher hat man einfach Alter und Geschlecht erfasst. Aber gerade bei den erwähnten multifaktoriellen Erkrankungen, also jene mit mehr als einer Ursache, ist auch eine möglichst genaue Abbildung der jetzigen wie auch früheren Lebensumstände wichtig. All das in anonymisierter Form natürlich.
Genetische Datenbanken können also bei selteneren, durch ein einziges defektes Gen ausgelösten Erkrankungen der Netzhaut deutlich schneller zu einer wirksamen Therapie führen als bei den multifaktoriellen.
GT: Diese Vermutung liegt nahe.
Und eine 60-jährige AMD-Patientin kann sich auch Hoffnungen machen, irgendwann in der Zukunft dank genetischer Forschung und Gendatenbank ein Stück Sehkraft zurückzubekommen?
GT: Eine Gentherapie wirkt, wenn sie dann eingesetzt wird, sobald die Fehlfunktion von Zellen ihren Anfang nimmt. Aber wenn die Fehlfunktion der Zellen schon zu einer deutlichen Degeneration geführt hat, wird die Korrektur des Genes nichts mehr ändern, weil die Zellen dann tot sind.
Was lässt sich dann tun?
GT: Es existieren ja andere Therapieformen. So engagiert sich die Forschung stark im Bereich der Stammzellentherapie, bei der man auch Zellen und Gewebestrukturen ersetzen kann. Der 60-jährigen AMD-Patientin würde ich eher diesen Weg empfehlen. Aber für die Kinder dieser Patientin käme durchaus die genetische Beeinflussung der Erkrankung in Frage, als Möglichkeit unter mehreren.
Ist so ein Gentest nicht kompliziert und mühsam?
GT: Überhaupt nicht, das Ganze ist simpel und schmerzfrei.
Ein Pieks in den Finger würde genügen?
GT: Es reicht sogar ein Abstrich aus der Mundschleimhaut. Der wird dann im Labor analysiert, wie man es von den TV-Krimis her kennt. Im Prinzip würde auch ein Haar aus dem Kamm genügen.
Kommen wir zum Thema Gentest und Krankenkassen. Das ist vermutlich eine Grauzone.
GT: Das ist auf alle Fälle eine Grauzone. Wenn Gentests keine nachgewiesen direkte Wirkung auf eine Behandlung haben, werden sie von der Krankenkasse sehr oft nicht getragen. Höchstens bezahlt die eine oder andere Kasse einen kleineren Teil der Kosten.
Gibt es auch Fälle, in denen die Krankenkasse vollumfänglich zahlt?
GT: Wenn zum Beispiel eine 50-jährige RP-Patientin eine Tochter hat, dann wird auf alle Fälle die Genuntersuchung bei beiden bezahlt.
Weil man dann spätere Behandlungskosten, die sich wahrscheinlich ergeben werden, reduzieren könnte.
GT: So ist es. Dazu kommt, dass für junge, potenziell Betroffene eine Genuntersuchung sehr relevant ist – wegen der Lebens- und Familienplanung. Hier erweisen sich Informationen über den Gen-Satz als nützlich.
Fassen wir zusammen: Was ist Ihr Ratschlag, wenn es allgemein um Augenuntersuchungen geht?
GT: Bei den Erkrankungen und Fehlfunktionen der Augen gibt es so viele Aspekte und verschiedene Details, dass ein Gang zu Augenärzt*innen immer ratsam ist. Das heisst, regelmässige und gründliche Routinekontrollen helfen, Krankheiten früh zu erkennen und so die Heilungschancen zu steigern.
Und der Gentest?
GT: Wie gesagt, durch einen Gentest allein könnte man sich fälschlicherweise in Sicherheit wiegen. Das bedeutet dann für die Patient*innen mehr Risiko als Nutzen.
MK: Es ist absolut richtig, dass Gentests aktuell nur bedingt sinnvoll sind und nur in ganz bestimmten Fällen von der Kasse bezahlt werden. Aber ganz unabhängig von einem individuellen Gentest: Meiner Meinung nach können ein allgemeines Wissen um die Macht der Gene, aber auch um deren Grenzen, sowie das Informiert-Sein über den aktuellen Forschungsstand den einzelnen Betroffenen helfen, sich selbst besser zu helfen.
Wie kann man sich denn selbst besser helfen?
MK: Zum Beispiel ist die Veranlagung zur AMD eine unterschiedliche, was die verschiedenen Ethnien betrifft. Menschen europäischer Abstammung haben ein höheres Risiko für AMD, wobeiFrauen häufiger betroffen sind als Männer. Wenn ich das weiss, kann ich besser auf mich achten. So wie ich mit sehr heller, empfindlicher Haut auch mehr darauf achte, mich gut einzucremen und die direkte Sonne öfter zu meiden.
Im besten Fall kombiniert man also den Gang zur Augenärzt*in und den Gentest.
GT: Wenn schon, dann diese drei Dinge: Kontrolle sowie Spezialuntersuchungen direkt durch die Augenärzt*innen – und je nach Einzelfall kann man als Ergänzung noch den Gentest machen.