Gentests für Sehbehinderte – wie weit darf das Recht auf Nichtwissen gehen, wenn dadurch eine Diagnose oder Therapie erschwert wird? Was kommt bei so einem Test alles heraus? Und was ist mit dem Recht, Kinder zu bekommen?
Autor: Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse
Ein Publikumsgespräch hat sich als spannender Schlusspunkt der 44. Generalversammlung von Retina Suisse erwiesen. In regem Austausch mit den 85 anwesenden Mitgliedern standen der Ophthalmologe Prof. Dr. Hendrik Scholl (Universitätsspital Basel) sowie der Ophthalmogenetiker Prof. Dr. Pascal Escher (Inselspital Bern). Es moderierte Stephan Hüsler, Geschäftsleiter von Retina Suisse.
Die Kernfrage zu Beginn des Publikumsgesprächs lautete: Soll ich als sehbehinderte Person einen Gentest machen, damit bessere Hilfe bei meiner Augenerkrankung möglich wird? Diese Frage verweist auf das Recht, möglichst genau über seine Krankheit Bescheid zu wissen – oder ganz bewusst nicht. Denn auch das Nichtwissen ist ein gutes Recht.
Solange es nur um die eigene Person geht, sind beide Möglichkeiten in gleicher Weise zu akzeptieren. Wenn erwachsene Sehbehinderte das Recht auf Nichtwissen in Anspruch nehmen, dann gibt es nichts weiter zu diskutieren. Auch wenn sie dabei unter Umständen eine bessere Diagnose oder Behandlung ihrer Augenerkrankung erschweren.
Kompliziert wird die Angelegenheit rund um den Gentest, wenn andere Personen ins Spiel kommen. Soll ich zum Beispiel als Netzhauterkrankte*r den Test machen, wenn ich Kinder habe, obwohl ich selbst eigentlich nichts wissen möchte? Eine valable Antwort auf dieses oft quälende Dilemma lautet: Die Kinder sollen volljährig werden, dann können sie selbst entscheiden.
Was tun, wenn das ungeborene Kind krank sein wird?
Ist eine Sehbehinderte schwanger, wird es noch komplizierter. Sie kann sich dann fragen, ob sie einen Gentest beim ungeborenen Kind machen lassen soll – auch wenn dieses später vielleicht nichts von seiner möglichen Netzhautdystrophie wissen will. Die schweizerischen Gesetze erlauben bei schweren Krankheiten eine pränatale Diagnostik, aber es fehlt der Beschrieb der genauen Kriterien. Das verkompliziert die Dinge noch mehr.
Angenommen, eine betroffene künftige Mutter führt vor der 21. Schwangerschaftswoche einen Gentest an ihrem Embryo durch. Was tun, wenn der Befund zum Beispiel auf kongenitale Lebersche Amaurose lautet? Hier gibt es nur eine vernünftige Antwort: Diese Frage muss in einem Schweizer Spital, das über eine Humangenetik-Abteilung verfügt, mit den medizinischen und psychologischen Fachleuten genau abgeklärt werden.
Unter den Mitgliedern von Retina Suisse sind einige, die nach eigener Aussage auf Kinder verzichten. Und dies obwohl sie nicht wissen, welchen genauen Erbgang sie haben. Ihre Überlegung ist radikal: Ich habe diese verflixte Krankheit, daher verzichte ich aufs Kinderkriegen. Auch diese Haltung ist ein gutes Recht.
Aus Angst alles verdrängen
Anderseits kann man eigentlich erst dann eine fundierte Entscheidung treffen, wenn man genau weiss, worin das Augenleiden besteht. Wenn jemand durch den Gentest erfährt, dass sie oder er eine seltene autosomal-rezessive Retina-Erkrankung hat, werden erst dann zwei Dinge klar, die ohne Gentest nicht evident wären: Liegt zum Beispiel das Erkrankungsrisiko für das ungeborene Kind in einem konkreten Fall bei eins zu zehntausend, fällt es statistisch kaum ins Gewicht. Somit kann sich eine vollständig informierte Person mit besserem Gewissen dafür entscheiden, das minimale Risiko einzugehen.
Ethisch einfachere Fälle sind solche, in denen die Kinder schon da sind. Wie eingangs geschildert, können 18-jährige Kinder selbst entscheiden, ob sie einen Gentest wollen – doch was ist, wenn sie noch minderjährig sind? Ein typische Situation wäre die folgende: Eine sehbehinderte Mutter will nichts wissen, ihre ebenfalls erkrankte 14-jährige Tochter hingegen möchte sich genau über ihre Netzhautdystrophie informieren. Vielleicht will die Mutter den Tatsachen nicht ins Auge schauen, weil sie aus übergrosser Angst um die Tochter lieber alles verdrängt?
Zufallsbefund kann zusätzliche Belastung sein
Oder nehmen wir an, es handle sich um betroffene Geschwister. Der ältere Bruder nimmt für sich das Recht des Nichtwissens in Anspruch, könnte aber helfen, seiner jüngeren Schwester eine bessere Prognose zu gewährleisten. Und zwar trotz der Tatsache, dass dieselbe Augenkrankheit unter Geschwistern wegen individueller Faktoren einen anderen Verlauf nehmen kann. Was also tun?
Ein möglicher fachärztlicher Rat in beiden Fällen könnte lauten: Der Mensch hat 3 Milliarden genetische Bausteine – da geht es nicht darum, sie alle zu kennen. Sondern nur den einen, möglicherweise beschädigten Baustein, der zum Beispiel eine Netzhautschädigung bewirkt.
Allerdings ist es eine Tatsache, dass bei einem Gentest das ganze Genom bzw. die ganze Erbmasse getestet wird. Es können also noch ganz andere, unerwartete Gendefekte entdeckt werden. Eine Sehbehinderte lässt zum Beispiel einen Test machen, um für ihre klinische Diagnose Retinitis pigmentosa die genaue Genmutation zu bestimmen. Und als Zufallsbefund ergibt sich eine Veränderung im Bereich des BRC1-Gens, die mit fast hundertprozentiger Sicherheit Brustkrebs hervorrufen wird.
Gen-Schnelltests und ihre Überraschungen
Für solche Situationen haben die Ärztinnen und Ärzte natürlich ihre verbindlichen Richtlinien. Grundsätzlich müssen sich diejenigen Betroffenen, die einen Augen-Gentest wünschen, einfach darüber im Klaren sein, dass auch die Entdeckung einer nicht-ophthalmologischen Pathologie möglich ist. Auf der anderen Seite entscheidet man selbst, wie viel man erfahren möchte.
Dasselbe gilt auch für klinische ophthalmologische Studien. Die Teilnehmenden können darauf verzichten, genau informiert zu werden. Sie dürfen sich jederzeit später melden, wenn sie bereit sind, das Ergebnis des Gentests zu erfahren.
Apropos Zufallsbefunde: Überraschungen können auch nicht sehbehinderte Personen erleben, wenn sie aus Jux mehr über ihre Herkunft erfahren möchten und online einen Billig-Gentest in Auftrag geben. Sie erhalten aus den USA ein Speichelproben-Set, und einige Wochen später kommen bereits die Ergebnisse, also viel schneller als bei Tests in Schweizer Spitälern. Hierbei können sich Überraschungen ergeben: So erfährt der oder die Test-Bestellerin, dass aufgrund der genetischen Herkunftshinweise ein Eltern- oder Grosselternteil nicht absolut treu gewesen sein kann.
Datenschutz bleibt eine heikle Sache
Bei diesen selektiven Internet-Gentests stellt sich das Problem des Datenschutzes. Denn die betreffenden Labors sind private Wirtschaftsunternehmen, und sie speichern ihre Daten gerne in einem breiteren externen Netzwerk, an dem sie beteiligt ist.
Das ist das Geschäftsmodell vieler solcher Firmen: Sie generieren dank der Tests genetische Daten, die sie gegen Geld in eine riesige Gen-Datenbank einspeisen. Diese wiederum dient zum Beispiel kommerziellen Statistikzwecken – Datenschutz wird hier sehr unterschiedlich gehandhabt und bleibt eine heikle Angelegenheit. Öffentliche Schweizer Spitäler hingegen, die breite Genanalysen durchführen, speichern die entsprechenden Daten nur lokal und garantieren deren Schutz.
Jede Person muss für sich selbst entscheiden, wie genau mit ihren Gen-Daten umgegangen werden soll. Als die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick im vergangenen Jahrtausend das menschliche Erbgut erstmals komplett sequenziert hatten, stellte Watson sein eigenes Genom später zu Demonstrationszwecken ins Internet. Es ist bis heute öffentlich einsehbar. Was aber die Konsequenzen für seine Nachkommen sind, das möge bitte privat bleiben.