Weltweit sind 300 Millionen Menschen von einer seltenen Krankheit betroffen. Darunter befinden sich viele Personen mit einer Netzhauterkrankung. Sie alle haben ein Recht auf eine klare Diagnose, umfassende Information und Betreuung. Um diese verschiedenen Bedürfnisse kümmern sich die Patientenorganisationen.
Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse
Wer an einer seltenen Krankheit leidet, ist beileibe nicht allein. Das soll der internationale «Tag der seltenen Krankheiten» vom 29. Februar 2024 in Erinnerung rufen. Es gibt zwischen 6000 bis 8000 seltene Krankheiten. In der Schweiz leben etwa 500’000 Menschen mit einer dieser Krankheiten.
Aber wann gilt eine Krankheit als selten? Die Weltgesundheitsorganisation WHO nennt eine Krankheit selten, wenn höchstens 5 von 10’000 Personen an dieser Krankheit leiden. Allerdings ist dieser Massstab relativ, denn je nach Ethnie oder Region in der Welt kann eine seltene Krankheit häufig auftreten. So ist Malaria in unserem Land sehr selten, in südlichen Ländern aber sehr häufig.
Obwohl sich die einzelnen Krankheiten sehr stark voneinander unterscheiden, haben die betroffenen Patientinnen und Patienten vergleichbare Probleme und Hindernisse zu überwinden. Dazu gehören fehlende Informationen über die Krankheit, eine falsche oder fehlende Diagnose, unzureichende oder falsche Behandlungen und Pflegeleistungen, behördliche Irrwege, eine schwierige Integration in der Schule und im Berufsleben sowie psychosoziale Isolation.
Die meisten Augenkrankheiten sind selten
Das Auge ist ein Organ mit vielen Krankheiten. Davon gelten die meisten als selten, darunter die folgenden:
● Erbliche Netzhautdegenerationen, z.B. Retinitis pigmentosa (RP), Morbus Stargardt, Zapfen-Stäbchen-Dystrophien, Morbus Best
● Syndromale Netzhautdystrophien, z.B. Usher-Syndrom, Refsum-Syndrom
● Hereditäre Optikusneuropathien, z.B. Lebersche hereditäre Optikusneuropathie (LHON)
● Makuläre Teleangiektasien
● Netzhautveränderungen bei systemischen Erkrankungen, z.B. Pseudoxanthoma elasticum
Ein Beispiel: Pro Gruppe von 4’000 Personen rechnet man mit einer Person, die Retinitis pigmentosa (RP) hat. Dies zeigt, dass trotz des Status «selten» die Zahl der betroffenen Menschen gar nicht so gering ist. RP zählt zu den häufigsten erblich bedingten Netzhauterkrankungen und zu den häufigsten Ursachen des Sehverlustes im mittleren Erwachsenenalter. Weltweit sind etwa zwei Millionen Menschen von RP betroffen. Retinitis pigmentosa ist eine durch Veränderungen in einem einzelnen Gen verursachte Krankheit. Allein für RP sind mehr als 110 Gene «pathogen», verursachen also die Krankheit. Für sich genommen ist somit jede einzelne Form der RP sehr selten.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lässt sich insgesamt sagen, dass die meisten Netzhauterkrankungen als selten gelten. Es handelt sich um vererbte Dystrophien der Retina, die auf eine Veränderung bestimmter Gene zurückzuführen sind. Weil nun aber die Bevölkerung stetig wächst, nimmt die Zahl der Menschen mit Augenproblemen stetig zu – und auch die Gruppe der Menschen mit erblichen Netzhauterkrankungen wird grösser.
Daher müssen die ophthalmologischen Praxen und Augenkliniken ein immer höheres Aufkommen an PatientInnen bewältigen. Gleichzeitig leiden diese Einrichtungen unter personellen Engpässen. Zudem finden die Augenärztinnen und -ärzte immer seltener die nötige Zeit für eine umfassende Beratung. Also fühlen sich die betroffenen Menschen noch stärker allein gelassen und isoliert. Das Bedürfnis nach praktischer Anleitung und nach psychologischer Unterstützung wächst.
Mit der Krankheit nicht allein sein
In dieser Situation sind sich viele Betroffene, ihre Angehörigen und selbst die Ärzteschaft einer Sache manchmal gar nicht bewusst: Rasche «erste Hilfe» ist sehr wohl möglich – und zwar durch die Patientenorganisationen, kurz PO genannt. Deren Appell an die Betroffenen lautet: «Bleiben Sie mit Ihrer Krankheit nicht allein.»
Eine dieser PO ist Retina Suisse. Wir sind eine in der ganzen Schweiz aktive Vereinigung von Patientinnen und Patienten mit Erkrankungen der Netzhaut, die rund 1600 Mitglieder hat und sich auch um Personen mit anderen ernsten Augenkrankheiten kümmert. Retina Suisse setzt sich für folgende Anliegen ihrer Mitglieder ein:
● das Recht auf eine korrekte Diagnose innert nützlicher Frist, möglichst durch eine Gen-Analyse bestätigt;
● das Recht auf ausführliche, wissenschaftlich fundierte Information;
● einen gleichberechtigten Zugang zu Therapien;
● Beratung punkto Sozialversicherungen, Hilfsmitteln, praktischer Alltagsbewältigung;
● Unterstützung bei der Bewältigung psychologischer Aspekte: Erst wenn die Diagnose klar ist, kann die Verarbeitung der Erkrankung einsetzen;
● Vernetzung der Mitglieder untereinander: Zusammen sind die einzelnen viele und somit sichtbar.
Retina Suisse führt kostenlos individuelle Beratungen am Telefon, per Mail oder Videokonferenz sowie in Präsenz unter vier Augen durch. Dazu kommen Gruppengespräche, Webinare und öffentliche Veranstaltungen.
Wer als Betroffene oder Betroffener daran teilnimmt, merkt schnell: Man ist nicht alleine. Durch die Vermittlung von Retina Suisse entsteht eine Solidarität zwischen den Betroffenen selber, die aufbauend wirkt. Der Austausch ist oft sehr schnell und offen, es wird vertrauensvoll und klar kommuniziert. Denn Menschen, die sich in einer PO organisieren, wollen nicht klagen, sondern sie wollen Informationen.
Der Anschluss an eine Patientenorganisation gibt den Betroffenen zudem die Möglichkeit, ihren Anliegen und Bedürfnissen öffentlich Gehör zu verschaffen. Als Gruppe von der Gesellschaft wahrgenommen zu werden stärkt das Selbstbewusstsein. Und schliesslich erleichtert eine PO auch das Auffinden spezialisierter Augenärztinnen und -ärzte, hilft beim Beantragen von Hilfsmitteln im Alltag und sorgt nötigenfalls für einen Rechtsbeistand.
Und nicht zuletzt verleiht folgende Einsicht den PatientInnen viel Schub: Über eine PO kann ich als Betroffene oder Betroffener meine Kräfte zur Selbsthilfe aktivieren.
«Kenne dein Gen!»
Besonderen Wert legt Retina Suisse auf die Gen-Diagnose: «Kenne dein Gen!» lautet die Devise. Denn wie weiter oben erklärt, sind die meisten Arten von Netzhautdegenerationen auf die Veränderung bestimmter Gene zurückzuführen. Einerseits kann, je nach Veränderung, ein einzelnes Gen verschiedene Krankheiten verursachen. Andererseits können mehrere Gene für ein und dieselbe Krankheit verantwortlich sein.
Hierbei sind mehr als 300 verschiedene Gene im Spiel. Daher ist es ohne genetische Analyse oft nicht möglich, eine genaue Diagnose zu stellen und die passende Beratung und Behandlung einzuleiten. Und nur wenn das für die fortschreitende Erblindung verantwortliche Gen bekannt ist, können Patientinnen und Patienten auch für eine neue Behandlung aufgeboten werden. Seit 2022 ist in der Schweiz die erste Gentherapie zugelassen, bei weiteren sind die Vorarbeiten im Gange.
Ein wichtiges Projekt von Retina Suisse ist deshalb der weitere Ausbau des nationalen Patientenregisters in Zusammenarbeit mit dem Inselspital in Bern. PatientInnen mit einer erblichen Netzhautkrankheit können den genauen Typ ihrer Krankheit durch Genanalyse bestimmen und in einem Register eintragen lassen.
Datenbank für seltene Augenkrankheiten
Konkret finanziert Retina Suisse eine ophthalmologische Datenbank innerhalb des Schweizer Registers für seltene Krankheiten (SRSK). Darin werden die genauen genetischen Daten aus den Tests und weitere wichtige Informationen für die Forschung und klinische Studien gespeichert. In diesem Register können sich alle Menschen mit einer seltenen Krankheit eintragen lassen. Das SRSK ist Teil des Nationalen Plans für Seltene Krankheiten, der vom Bundesrat bereits 2014 verabschiedet wurde. Das Register ist seit einem Jahr aktiv und nimmt Befundbriefe entgegen.
Mit dem ophthalmologischen Modul verfolgt Retina Suisse folgende Ziele:
● zuverlässige Diagnosen für Patientinnen und Patienten ermöglichen;
● therapeutische Möglichkeiten identifizieren;
● Informationen über die in der Schweiz existierenden Netzhautdystrophien zur Verfügung stellen;
● Kenntnisse über Art und Häufigkeit erblicher Netzhautdystrophien in der Schweiz sowie über das Alter bei Ausbruch der Krankheit sammeln;
● die Aufmerksamkeit der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft auf das Register für seltene Krankheiten lenken, damit mehr klinische Studien in der Schweiz durchgeführt werden;
● Patientinnen und Patienten über klinische Studien in der Schweiz und in den angrenzenden Ländern informieren.
Die ophthalmologische Datenbank am Inselspital existiert seit 2018, aufgebaut und geführt von Prof. Dr. Pascal Escher (Leiter der Forschungsgruppe für Ophthalmogenetik). Sie soll in den nächsten Monaten ins SRSK übertragen werden. Damit will Retina Suisse die genetischen Daten langfristig sichern, und zwar unabhängig davon, ob am Inselspital weiterhin eine Forschungsgruppe Ophthalmogenetik besteht. Dank Professor Eschers grossem Einsatz für die Betroffenen umfasst die Datenbank bereits um die 1700 Einträge.
Zudem hat die Datenbank von Retina Suisse schon erste Früchte getragen. So wurden Kontakte zu Forschenden in den USA, Grossbritannien, den Niederlanden, Belgien und Schweden aufgebaut oder intensiviert. In einigen Fällen führte dies zu gemeinsamen Forschungsprojekten. Darüber hinaus konnten Patientinnen und Patienten an Studienzentren im Ausland vermittelt werden.
Bessere Chancen dank Datenbank
Das Fazit lautet: Mit dem Eintrag im Register haben Patientinnen und Patienten künftig raschen Zugang zu neu entwickelten Therapien. Denn nur wenn das defekte Gen erforscht ist, kann es auch behandelt werden. Der fortschreitende Verlust des Augenlichtes lässt sich eher bremsen, wenn die betroffenen Menschen dank ihrer Registrierung in der Datenbank schnell und direkt für eine Therapie ihres Gendefektes kontaktiert werden. Und je früher behandelt werden kann, desto grösser ist der Erfolg.
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