«Wir Betroffenen sind für jeden Tag, an dem wir noch etwas sehen können, sehr dankbar»

Der Walliser Brunnenmeister Andreas Zimmermann (Jahrgang 1971) erhielt 2011 die Diagnose des genetisch bedingten Usher-Syndroms. Dieses bewirkt eine fortschreitende Schwerhörigkeit sowie den allmählichen Verlust der Sehkraft im Sinne von Retinitis pigmentosa. Zimmermann führt seit Januar 2019 die sogenannte OkuStim-Therapie durch mit dem Ziel, länger etwas sehen zu können. Im Gespräch mit Retina Suisse erklärt er die Behandlungsmethode und berichtet von seinen Erfahrungen.

Interview: Peter Jankovsky, Kommunikation Retina Suisse, peter.jankovsky@retina.ch

Herr Zimmermann, was ist Sinn und Zweck der OkuStim-Therapie?

Das Ziel ist und bleibt, den Patient*innen mit einer erblichen degenerativen Netzhauterkrankung eine valable Therapie anzubieten.

Worin besteht die Therapie genau?

Die Netzhaut wird elektrisch stimuliert.

Seit wann gibt es diese Methode?

Eine erste klinische Studie fand 2011 statt. Sie konzentrierte sich direkt auf die Elektrostimulation der Netzhaut und lieferte vielversprechende Testresultate. 2014 bestätigte eine zweite klinische Studie die Wirksamkeit einer solchen Therapie. Ungefähr ein Jahr später gelangte die Elektrostimulation zur regulären Anwendung.

Was genau lässt sich mit der elektrischen Stimulation der Netzhaut erreichen?

Eine Verlangsamung des Krankheitsverlaufs bei Retinitis Pigmentosa (RP). Der Verlust des Gesichtsfeldes und am Ende die Erblindung können hinausgezögert werden. Ausserdem beeinflusst die OkuStim-Therapie auf positive Weise verschiedene RP-Begleiterscheinungen wie Verlust des Farbensehens oder vermindertes Kontrastsehen.

Wie beurteilen Sie die Wirksamkeit von OkuStim?

Generell hat man gute Erfahrungen mit dieser Therapie gemacht. Ich persönlich habe bei der Behandlung ein gutes Grundgefühl. Meiner bisherigen Erfahrung nach schreitet die Erkrankung tatsächlich weniger schnell voran.

Lassen sich viele Jahre des Sehens gewinnen?

Das kann wohl niemand genau beantworten. Die Person, die sich der Okustim-Therapie unterwirft, weiss ja nicht, wie ihre Situation ohne OkuStim aussehen würde. Und die Krankheitsverläufe sind ohnehin individuell sehr unterschiedlich. Aber schon der Effekt der Verlangsamung an sich ist viel wert und hat eine positive Wirkung. Auch wenn der Wirkungsgrad völlig verschieden ist. Ich bin für jeden zusätzlichen Tag dankbar, an dem ich dank der Therapie besser sehen kann.

Könnte man die Wirksamkeit durch höhere Intensität der Impulse nicht weiter steigern?

Das ist schwierig zu beurteilen. Die verschiedenen Stimulationsstärken, die man individuell einstellt, haben punkto Verträglichkeit wohl ihre Grenzen.

Vermutlich gibt es auch Betroffene, bei denen die Therapie nichts nützt.

OkuStim hat den grössten Nutzen für RP-Patienten, welche noch einigermassen ein Gesichtsfeld besitzen. Beträgt der Radius des Gesichtsfeldes in beiden Augen weniger als 5 Grad oder ist dieses generell sehr klein, macht eine Netzhaut-Stimulation kaum Sinn. Ansonsten gilt: Je früher man beginnt, desto besser.

Wie sieht der genaue Ablauf der Behandlung mit OkuStim aus?

An einem brillenähnlichen Gestell, OkuSpex genannt, werden zwei speziell konstruierte Elektroden befestigt. Dann bringt man zwei Stirnkleber für die Elektroimpulse an und befeuchtet die Augen. Anschliessend wird die OkuSpex-Brille aufgesetzt, welche die Elektroden drekt auf den Augen hält und sich leicht an die individuelle Gesichtsform anpassen lässt.

Die Elektroden liegen also direkt auf den Augen?

Die haardünnen Elektrodenfäden liegen am unteren Lidrand direkt auf dem Auge. Über sie gelangt der Strom auf die Augenoberfläche und weiter zur Netzhaut. Die Elektroden sind per Kabel mit dem handlichen digitalen OkuStim-Impulsgerät, den Neurostimulator, verbunden. Dieser enthält das Stimulationsprogramm, das der Augenarzt individuell festgelegt hat.

Man muss für die Therapie also jedes Mal zum Augenarzt. 

Nein, im Gegenteil. Die OkuStim-Therapie wurde für die Anwendung zu Hause entwickelt. Das Stimulationsprogramm erhalten diePatient*innen zusammen mit Ihrem OkuStim-System auf einem kleinen USB-Stick, den sie in den Neurostimulator einsetzen. So erfolgt die Stimulation auf sichere und kontrollierte Weise. Man steckt also zuhause dieElektroden ein, setzt OkuSpex auf und lehnt sich zum Beispiel auf einem bequemen Sessel entspannt zurück. Dann startet man den Neurostimulator, und die Therapie läuft.

Und Sie persönlich, wie führen Sie die Therapie durch?

Ich selber liege dabei und höre Musik. Die OkuStim-Therapie führe ich einmal pro Woche für 30 Minuten durch. Meistens muss ich dabei mindestens ein-bis zweimal die Therapie unterbrechen, um die Augen zu befeuchten. 

Gibt es Nebenwirkungen?

Die Therapie schmerzt bei Beginn leicht, aber man gewöhnt sich schnell daran. Eigentliche Nebenwirkungen sind mir keine bekannt.

Man führt die Therapie alleine zuhause durch, muss aber wohl trotzdem ärztlich betreut werden.

Natürlich. Ich zum Beispiel wohne im Wallis und werde in der Universitätsklinik Basel betreut und dort mindestens einmal im Jahr gründlich untersucht. Auch die Augenklinik Jules-Gonin in Lausanne bietet diese Betreuung an, und zwar schon länger. Den Neurostimulator und das Verbrauchsmaterial beziehe ich von der Firma Mediconsult Schweiz.

Andreas Zimmermann, Porträtfoto ohne OkuStim-Gestell

Bezahlt die Krankenkasse die Behandlung?

Meine Krankenkasse übernimmt sämtliche Kosten. Allerdings bin ich einer der wenigen, denen die Krankenkasse die Okustim-Behandlung bezahlt. Ich habe in Bezug auf diese Therapie ein Gesuch um Aufnahme in die Pflichtleistungen der obligatorischen Krankenversicherung gestellt. Es ist seit mehreren Jahren beim Bundesamt für Gesundheit hängig.

Wenden wir uns psychologischen Aspekten zu. Haben die Patient*innen, welche die Therapie durchführen, hohe Erwartungen?

Dazu kann ich nur Folgendes sagen: Man darf nicht zu viel erwarten, und von einer Heilung kann gar nicht gesprochen werden. Aber wenn die Therapie nur schon ein bisschen hilft und eine Verlangsamung des Krankheitsverlaufs spürbar ist, hilft dies psychisch enorm.

Sie fühlen sich also gut mit der Therapie.

Ich bin glücklich, dass es eine Therapie gibt, die sich positiv auf RP auswirkt. Alles, was gegen Sehverlust helfen kann, ist sehr wichtig für die Psyche.

Das Fortschreiten von RP kann nur verlangsamt werden. Wirkt das am Ende nicht doch entmutigend?

Eine Verlangsamung ist schon viel besser als gar nichts. Wir Betroffenen sind für jeden zusätzlichen Tag, an dem wir noch etwas sehen können, sehr dankbar. Denn dank der Verlangsamung können wir länger die Umgebung visuell wahrnehmen und ein möglichst normales Leben führen.

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